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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Seit dem Tod Herzls im Jahr 1904 war es über die künftigen Aufgaben der zionistischen Organisation zu heftigen, auch persönlichen Auseinandersetzungen gekommen, von denen die Rechenschaftsberichte nicht entfernt ein realistisches Bild vermitteln. Überdies waren die Zionisten mit politischen Veränderungen konfrontiert, auf die sie keinerlei Einfluss hatten und die ihre Ziele dennoch unmittelbar tangierten. Die russischen und polnischen Juden, die weiterhin vor Pogromen und Boykotten außer Landes flüchteten – darunter viele mit eher sozialistischen als zionistischen Vorstellungen –, dachten gar nicht daran, abzuwarten, bis sich die zionistischen Würdenträger in Wien, Köln oder Berlin über die künftige Siedlungspolitik in Palästina geeinigt hatten. Herzl hatte es ausdrücklich abgelehnt, bereits existierende Siedlungen zu unterstützen, solange das Osmanische Reich den jüdischen Kolonisten keinerlei politische Garantien zu geben bereit war. Herzl wollte Autonomie, mittelfristig den jüdischen Nationalstaat. Andernfalls, so argumentierte er, seien die Juden wiederum nur Gäste und damit jedem Stimmungsumschwung der Bevölkerung und jedem politischen Machtwechsel schutzlos ausgeliefert. Was die Juden heute in Palästina aufbauten – mit Spenden aus der ganzen Welt –, konnte ihnen morgen schon wieder genommen werden.
    Nun ging indessen die unkontrollierte jüdische ›Infiltration‹ Palästinas weiter, und die Zionisten begannen, der Entwicklung hinterherzulaufen. Dem ›politischen Zionismus‹ Herzls, der erfolglos auf die Karte der Geheimdiplomatie gesetzt hatte, stellte sich ein höchst ungeduldiger ›praktischer Zionismus‹ entgegen. Nicht mehr verhandeln, sondern endlich handeln , lautete die Devise. Man müsse Fakten schaffen, denn dies allein werde die Machthaber in Konstantinopel, aber auch die westlichen Kolonialmächte von den friedlichen, zivilisatorischen Bestrebungen der Zionisten überzeugen. Hatten die Türken erst einmal verstanden, dass die jüdischen Siedler in Palästina gute Steuerzahler waren und dass ihre Arbeit den Lebensstandard der gesamten, auch der arabischen Bevölkerung steigerte – ganz zu schweigen davon, {407} dass sie die Siedlungsflächen ja nicht einfach besetzten, sondern kauften , wodurch sehr viel Geld ins Land floss –, dann war es nur noch eine Frage der Zeit, ehe diese ökonomischen Vorleistungen auch politisch honoriert würden.
    Diese neue Strategie, sämtliche verfügbaren Finanzmittel für die ›Palästinaarbeit‹ aufzuwenden und dadurch die Kolonisation des Landes unumkehrbar zu machen, hatte sich zwei Jahre zuvor, beim X. Zionistenkongress in Basel, nach heftigen Wortgefechten durchgesetzt. Der politische Zionist David Wolffsohn, als Präsident der unmittelbare Nachfolger Herzls, war aus dem Amt gedrängt worden, und seinen Platz übernahm der Pragmatiker Otto Warburg, ein Botanik- und Kolonisationsexperte aus Berlin. Danach wurde der Basler Kongress von den siegreichen praktischen Zionisten zum ›Friedenskongress‹ erklärt – geschickt, wenngleich ein wenig voreilig.
    Allein vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen wird verständlich, warum die Wiener Veranstaltung, so imposant sie den Beobachtern schien, im Ganzen unpolitisch blieb und keinerlei neue Perspektiven eröffnete. Konsequent verdrängt wurde vor allem das Problem, dass man es nach der verheerenden militärischen Niederlage des Osmanischen Reichs, die erst wenige Monate zuvor besiegelt worden war, mit einer völlig veränderten politischen Lage zu tun hatte. Das nationalistische jungtürkische Regime, das soeben den Verlust praktisch sämtlicher europäischer Besitzungen hatte quittieren müssen, würde wohl kaum geneigt sein, nun auch noch in Palästina irgendwelchen Autonomiebestrebungen freundlich entgegenzukommen; tatsächlich war es den Zionisten bislang nicht gelungen, hier erfolgversprechende Kontakte aufzunehmen. Der Kongress indessen schwieg dazu: alles, nur keine neuerlichen Debatten über die Fernziele der Bewegung – selbst um den Preis, dass einflussreiche Zionisten aus England, Frankreich und sogar aus Österreich verärgert fernblieben. Fragen der jüdischen Identität – und damit der gesamte Komplex des Kulturzionismus – blieben ebenfalls ausgeklammert: Damit war auch der größte Teil der Prager zionistischen Szene, die ohnehin in keinem bedeutsamen Gremium der Organisation vertreten war, zum bloßen Zuhören verurteilt. Allein um praktische Arbeit in

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