Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Palästina sollte es diesmal gehen, und die Entscheidungen, die zu treffen waren, bezogen sich nahezu ausschließlich auf die Verteilung der im ›Jüdischen Nationalfonds‹ verfügbaren Mittel: auf die Frage vor allem, ob {408} man sich ganz auf Landerwerb und landwirtschaftliche Besiedelung konzentrieren solle, oder ob daneben auch eine kulturelle Infrastruktur realisierbar und förderungswürdig sei, beispielsweise eine eigene Universität.
Warburg freilich täuschte sich, wenn er glaubte, ausgerechnet in Wien, der ›Herzlstadt‹, den Weltkongress der Zionisten wie eine preußische Vereinssitzung abspulen zu können. Schon am Tag nach seiner staatsmännisch ausgewogenen Eröffnungsrede kam es zum ersten Zwischenfall: Ein Grußtelegramm des nach wie vor populären, doch demonstrativ abwesenden Max Nordau wurde verlesen, in dem er sich mit herzlichen Worten an die Delegierten wandte, dem Actions-Comité jedoch vorwarf, sich von den Ideen Herzls immer weiter zu entfernen. Die darauf folgenden tumultartigen Szenen, die in vielstimmigen Hochrufen auf Nordau gipfelten, machten deutlich, dass von einer Befriedung der politischen Fraktion, die nach wie vor den jüdischen Staat wollte und die man darum jetzt ›Idealisten‹ nannte, noch längst keine Rede sein konnte. Da half es auch nichts, dass man einträchtig und in stundenlanger Prozession am Grab Herzls vorbeidefilierte.
Für andauernde Unruhe sorgte auch das Sprachproblem, hinter dem sich, wie alle wussten, ideologischer Sprengstoff verbarg. Die Kongresssprache war Deutsch. Doch selbstverständlich bedienten sich alle, die es konnten, des Hebräischen, und darüber hinaus auch einige, die es nicht konnten. Wer vom Hebräischen ins Deutsche wechselte, wurde von Zwischenrufern ermahnt. Anträge wurden zur Abstimmung gestellt, die niemand recht verstanden hatte. Einige Redner bestanden auf dem Jiddischen. Wer übersetzen konnte, hatte alle Hände voll zu tun, und bereits nach wenigen Tagen war man gegenüber dem allzu optimistischen Zeitplan derart in Verzug geraten, dass eine Nachtsitzung eingeschoben werden musste.
Als Kafka am Vormittag des 8.September den zentralen Tagungsort betrat, das Musikvereinsgebäude am Karlsplatz, machte sich bereits Erschöpfung bemerkbar. Die Rednerliste war lang, erneut war eine zwölfstündige Sitzung anberaumt, und die fortdauernden Machtkämpfe, vor allem um die Kontrolle der zionistischen Finanzinstitute, hatten sich hinter die Kulissen verlagert. Vorne hingegen, auf offener Bühne, zeigte sich jenes Konglomerat aus Verbandsrhetorik, Pioniergeist und gestikulierender Emphase, das so charakteristisch ist für die {409} Frühphase politischer Bewegungen und das jeden ernüchtern muss, der sich vom gemeinsamen Ziel den Wärmestrom der Gemeinschaft erhofft. Selbst noch Kafkas spärliche Notizen spiegeln dieses Moment einer gleichsam gegen die eigene Einsicht arbeitenden Enttäuschung:
»Der Typus kleiner runder Köpfe, fester Wangen. Der Arbeiterdelegierte aus Palästina, ewiges Geschrei. Tochter Herzls. Der frühere Gymnasialdirektor von Jaffa. Aufrecht auf einer Treppenstufe, verwischter Bart, bewegter Rock. Ergebnislose deutsche Reden, viel hebräisch, Hauptarbeit in den kleinen Sitzungen. Lise W[eltsch] lässt sich vom Ganzen nur mitschleppen, ohne dabei zu sein, wirft Papierkügelchen in den Saal, trostlos.« [378]
Kafka beobachtet Typen : Welch ein Unterschied zu den seitenlangen, liebevollen Schilderungen, mit denen er die ewig zerstrittenen, immer aufs Neue sich zusammenraufenden ostjüdischen Schauspieler bedacht hatte. Hier dagegen saß er »wie bei einer gänzlich fremden Veranstaltung«. Er langweilte sich. Und offenbar nicht er allein. Selbst der anonyme Korrespondent der Selbstwehr , der in Wien das erhabene Erlebnis einer »sehnsüchtigen, gequälten und von der Begeisterung eines großen Wollens durchglühten Masse« suchte und fand – das war wieder der Buber-Sound –, musste zugeben, dass dort Reden gehalten wurden, die so öde waren, dass man sich besser an das optische Schauspiel des Kongresses hielt. [379] Kafka indessen scheint sich nicht einmal für das umfängliche Begleitprogramm erwärmt zu haben. Lichtbilder aus Palästina hätte er sehen können und jüdische Turner in Aktion. Stattdessen spazierte er im Park von Schönbrunn umher. Hätte er ahnen können, dass dies für ganze acht Jahre die letzte Gelegenheit war, eine Vollversammlung des Zionismus zu erleben? Niemand konnte das ahnen. Und
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