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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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ihn zu einer unbeweglichen Zielscheibe machte. Er sah keine Notwendigkeit, post festum zu rechtfertigen, was er selbst schon »kämpfend überwunden« glaubte. Da es ihm aber noch viel mehr widerstrebte, eine derart massive Attacke schweigend hinzunehmen, blieb ihm nichts als gereiztes Gefuchtel: Die angeblichen Entgleisungen, die Liegler zitierte, seien aus dem Zusammenhang gerissen, der Angreifer verstecke sich hinter einem Pseudonym und sei im Übrigen nicht von »rechtlichem Schönheitstrieb« {401} (sic!), sondern »von der Inspiration eines gewissen Wiener Kaffeehaustisches beflügelt«. So zu lesen am 9.August in der Berliner Aktion .
    Dieser Schlagabtausch war natürlich das Tagesgespräch im Café Museum. Jeder hier wusste, dass zwischen jenem »gewissen Kaffeehaustisch« (warum nur nannte Brod den Gegner nicht beim Namen?) und der Zeitschrift Der Brenner das beste Einvernehmen herrschte. Irgendeine Absprache, dem Provinzfürsten Brod wieder einmal heimzuleuchten, musste es da wohl gegeben haben, auch wenn Liegler und Kraus sich nicht persönlich kannten.
    Kafka hörte aufmerksam zu. Er wusste, wie sehr Brod die Vorstellung quälte, irgendwelche neuerlichen ›Missverständnisse‹ könnten sich unkontrolliert fortpflanzen, und wie begierig er darauf war, zu erfahren, wer nun zu wem hielt und wo genau die Front verlief. Doch solche allgemeinen Stimmungsberichte waren Kafkas Sache nicht, und es dauerte einige Tage, ehe er ein diplomatisches, für Brod einigermaßen erträgliches Kommuniqué zu formulieren vermochte:
»Von Dir wurde viel gesprochen und während Du Dir vielleicht Tychonische Vorstellungen von diesen Leuten machst, sassen hier um den Tisch zufällig zusammengekommene Leute, die sämtlich Deine guten Freunde waren und immer wieder mit Bewunderung irgendeines Buches von Dir hervorbrachen. Ich sage nicht, dass es den geringsten Wert hat, ich sage nur, dass es so war. Davon kann ich Dir ja im Einzelnen noch erzählen. Wenn einer aber Einwände hatte, dann kam er gewiss nur aus der allzugrossen Sichtbarkeit an der Du für diese stumpfen Augen leidest.« [372]  
    »Tychonische Vorstellungen«: eine Anspielung auf Brods großen, im Entstehen begriffenen Roman TYCHO BRAHES WEG ZU GOTT, dessen Protagonist sich von Undankbarkeit und Verrat umgeben glaubt. So also war es nicht. Doch Einzelheiten meidet Kafka. Ihm war wohl klar, dass manches Urteil der »guten Freunde« sich unter vier Augen anders anhören würde. Immerhin, es waren Einwände laut geworden, und das war nach Lage der Dinge kein Wunder. Und die »allzugrosse Sichtbarkeit« ging keineswegs auf die Stumpfheit des Publikums zurück – war dies doch wortwörtlich Kafkas eigener Vorwurf, den Brod erst zwei Wochen zuvor in seinem Tagebuch festgehalten hatte.
    Zu seinem Glück hatte Kafka Wien bereits verlassen, als die Polemik in die nächste Runde ging und beide Seiten noch einmal kräftig nachlegten. Den kaum verhüllten Vorwurf, er sei von Karl Kraus ferngesteuert, {402} konnte natürlich Liegler nicht auf sich sitzen lassen; er bezeichnete seinen Kontrahenten als »Verleumder« und zitierte nochmals aus dessen lyrischen Erzeugnissen, um vor aller Augen zu führen, wie unfähig Brod sei, ein »individuelles Erlebnis« »in ewige Formen« zu schmieden. »Bedauernswürdig arme, gehässige Schreiberseele«, konterte Brod; allmählich verließ ihn die Lust, »diesem Hass in das schwierige Gebiet künstlerischer göttlicher Dinge zu folgen«. Das letzte Wort aber hatte eine dritte Stimme, der Herausgeber des Brenner , Ludwig von Ficker, der, auf anderem Niveau und mit kritischer Autorität, bei Brod trocken ein »Mißverhältnis« konstatierte »zwischen einem künstlerischen Anspruch und der Fähigkeit, ihn zu erfüllen«. [373]   Das war ein Schlag, der schmerzte – denn damit war ausgesprochen, dass Der Brenner , die einzige ernstzunehmende kulturkritische Zeitschrift, die das deutschsprachige Österreich zu bieten hatte (neben der Fackel , aber Die Fackel war das Böse), Brod auch künftig verschlossen bleiben würde.
    An der bissigen, doch argumentativ ausgesprochen dürftigen Vorstellung, mit der Brod sich neuerlich in eine Sackgasse manövrierte, kann Kafka nicht viel Freude gehabt haben. In jedem Satz rumorte persönliches Ressentiment, und dass Brod zu seiner Rechtfertigung Metaphysik ins Spiel brachte, in Sperrdruck, wirkte im Kontext dieser gewöhnlichen literarischen Rauferei nicht sonderlich souverän. Doch es hatte seine Gründe

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