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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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niemand konnte noch wissen, dass von der gesamten Epoche der türkischen Herrschaft über Palästina – genau vier Jahrhunderte sollte sie schließlich dauern – bereits 99 Prozent vergangen waren.

    Kafka nahm das zionistische Abzeichen vom Revers. Dann steckte er sich eine andere Medaille an, die den Transport eines Verwundeten zeigte. Es war die Erkennungsmarke der Teilnehmer am ›II. Internationalen Kongreß für Rettungswesen und Unfallverhütung‹, die am Abend im Wiener Rathaus offiziell begrüßt werden sollten. An Fernbleiben war nicht zu denken; Direktor Marschner und Oberinspektor {410} Pfohl hatten sich, wie alle Vortragenden, persönlich vorzustellen, der Präsident der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, Dr.Otto Přibram, war ebenfalls anwesend; wie also hätte es ausgesehen, wenn bei diesem Anlass ausgerechnet der stellvertretende Abteilungsleiter, dem man für seine treuen Dienste einen Ausflug nach Wien spendiert hatte, sich nicht hätte blicken lassen. Zum zweiten Mal an diesem Tag suchte also Kafka seinen Platz inmitten von tausend Menschen. Ein halbes Dutzend Begrüßungsreden gab es und ein kaltes Büfett. Auf dem Tisch, dem er zugeteilt war, stand ein böhmisches Fähnchen. Ein Stoßtrupp junger Pfadfinder füllte die Gläser nach.
    Kafka hatte Kopfschmerzen. Nachts wartete er auf den Schlaf, vergeblich, Stunde um Stunde. Noch niemals war es ihm auf einer Reise so schlecht ergangen, und während ihm sonst das bescheidenste Hotelzimmer (wenn es nur sauber war) das Aroma einer unbekannten Freiheit schenkte, wälzte er sich diesmal im Bett, wechselte die kalten Umschläge auf der Stirn und horchte auf Otto Pick, der, um in sein eigenes Bett zu gelangen, durch Kafkas Zimmer musste.
    Noch wenige Tage zuvor war ihm ein ebenso schlichter wie phantastischer Einfall gekommen: die Angst endlich gelten lassen, nur dem eigenen Bedürfnis folgen, mit Felice »beisammen leben, jeder frei, jeder für sich, weder äußerlich noch wirklich verheiratet sein, nur beisammen sein und damit den letzten möglichen Schritt über Männerfreundschaft hinaus getan haben, ganz knapp an die mir gesetzte Grenze, wo sich schon der Fuss aufrichtet«. War das ein menschenmögliches Leben? Kafka glaubte es für einige Stunden. Dann fiel ihm Heinrich Laubes Biographie über Grillparzer in die Hand, den »Blutsverwandten«. Er begann zu blättern. Was Kafka träumte, hatte Grillparzer wahrhaftig versucht. »Er hat das getan, gerade das […] Aber wie unerträglich, sündhaft, widerlich war dieses Leben und doch gerade noch so, wie ich es vielleicht unter grössern Leiden, als er, denn ich bin viel schwächer in manchem, zustandebrächte.« [380]   Damit verlosch das Traumbild, doch noch ehe die Ernüchterung überwog, schrieb er es auf, fügte es den Notizen bei, die er an Felice sandte. Es kam nicht mehr darauf an. Er hatte, mit seiner Abreise aus Prag, den intimen Lichtkreis des Paares verlassen. Darum durften solche Dinge jetzt ausgesprochen werden. Er schlug ihr – recht besehen – ein gemeinsames Leben ohne Sexualität vor. Niemals mehr würde er sich weiter vorwagen.
    Kafka hat sich, dies ist gewiss, in den schlaflosen, kopfschmerzzerrissenen Nächten, die er im Hotel Matschakerhof verbrachte, weder mit dem literarischen Dauerkongress der Wiener Kaffeehäuser beschäftigt, noch mit dem Zionistenkongress, noch mit dem Kongress der Retter und Unfallverhüter. Er dachte an Grillparzer, an den ARMEN SPIELMANN, den er beinahe auswendig kannte. Er dachte daran, dass im selben Gebäude, ein paar Treppen tiefer, Grillparzer regelmäßig zu Mittag gegessen hatte. Er dachte an die beschwerliche Reise über Triest nach Venedig, die Grillparzer gelehrt hatte, was Seekrankheit heißt (ahnte er, dass ihm eine Woche später genau das Gleiche bevorstand?). Er dachte an das plötzliche, scheinbar grundlose, doch dauerhafte Erlöschen des sexuellen Verlangens, das Grillparzer, zu seinem eigenen Entsetzen, immer wieder erleben musste, selbst gegenüber Kathi Fröhlich, seiner ›ewigen Braut‹. Und vielleicht dachte er an jenes innerste Unglück, das Grillparzer einst seinem Vertrauten Georg Altmütter eröffnete:
»Wollte Gott, mein Wesen wäre fähig dieses rücksichtslosen Hingebens, dieses Selbstvergessens, dieses Anschließens, dieses Untergehens in einem geliebten Gegenstand! Aber – ich weiß nicht, soll ich es höchste Selbstheit nennen, wenn nicht noch schlimmer, oder ist es bloß die Folge eines unbegrenzten Strebens

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