Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Rettung zur See eigene Abteilungen einrichtete. Dass auch die Unfallverhütung hierher gehörte, also die Beschäftigung mit Katastrophen, die noch nicht passiert sind, wird im Kongressband ausdrücklich als Neuerung und als »glücklicher Gedanke« hervorgehoben. »Möge diese angebahnte Verbrüderung zwischen Technikern und Samaritern sich zu einer bleibenden gestalten!« [383]
Kafka war weder Samariter noch Techniker. Was war er also, was hatte er hier zu suchen? Er kannte sich aus im Unfallschutz, hatte auch selbst schon Aufsätze verfasst über konkrete technische Verbesserungen. Doch das lag einige Jahre zurück, und sein täglich Brot waren nicht Maschinen, sondern Versicherungsakten. Zwei Referaten durfte er lauschen, die er selbst verfasst hatte: Pfohl sprach über ›Die Organisation der Unfallverhütung in Österreich‹, Direktor Marschner über ›Die Unfallverhütung im Rahmen der Unfallversicherung, mit besonderer Berücksichtigung der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt‹. Kein Zweifel, dass auch Kafka höflich applaudierte. Doch ihm, der sich in die Rolle des neutralen Beobachters bisweilen besser zu versetzen wusste als in die eigene, müssen diese Sitzungen die gespenstische Immaterialität des eigenen Berufs quälend vor Augen geführt haben. Unfallverhütung ist Prophylaxe, mithin etwas Abstraktes, dessen soziale Ethik man den anwesenden Samaritern erst einmal erklären musste. Kafka aber befasste sich mit der versicherungsrechtlichen Fundierung des Unfallschutzes, mit der ›Bedingung der Möglichkeit‹ gleichsam, mit einer Prophylaxe zweiten Grades, die sich ausschließlich in Korrespondenzen und Aktenordnern vollzog. Er wusste sehr genau – auch wenn er in Briefen und Tagebüchern kein {414} Wort über diese Dinge verlauten lässt –, dass eine versicherungsrechtliche Verordnung, deren Sinn kaum eine Hand voll Experten wirklich erfasst, der Beginn einer Kausalkette sein kann, an deren Ende mehr oder weniger vergossenes Blut, mehr oder weniger zerrissene Glieder beweint werden. Doch diese Kausalkette ist lang und dünn, und ein Beamter in Ärmelschonern, der die soziale Funktion seiner Tätigkeit erst wortreich begründen muss, macht neben einem erprobten Rettungsarzt keine gute Figur.
So war es wohl nicht nur der anonyme Großbetrieb der Veranstaltung, sondern auch die spürbare Deplatziertheit von Kafkas Berufsgruppe, die dafür sorgte, dass er keinen Funken von Interesse empfand. Am Ende hob er noch ein paar Mal pflichtgetreu die Hand; auf acht Resolutionen brachte es die Abteilung X, darunter die Empfehlung von Sehtests für Führerscheinanwärter sowie die Forderung, »gewisse Teile des Meeres ausschließlich zur Schwammfischerei mit unbekleidetem Körper und mit dem Dreizack zu reservieren«. Was mit diesen Resolutionen geschehen würde, konnte der Beamte Kafka sich ausmalen. » … etwas Nutzloseres als ein solcher Kongress lässt sich schwer ausdenken«, klagte er, als er es endlich hinter sich hatte. [384]
Wie schwach der Gedanke der Prophylaxe tatsächlich im Bewusstsein der professionellen Helfer verankert war, lässt sich selbst noch der affirmativen und bemüht optimistischen Berichterstattung der Presse entnehmen. Am Abend des 13.September fand im Rathaus ein abschließender Empfang zu Ehren der Kongressteilnehmer statt – kein Zweifel, dass Kafka auch hier noch einmal antreten musste –, mit teils pathetischen, teils ›launigen‹ Reden und ungezählten Toasts auf die Gäste, die Organisatoren, den Bürgermeister, die Regierung und den Kaiser. Ein ritueller Akt mit streng definierten Rollen. Einigen politischen Zündstoff brachte allerdings die Rede des Innenministers von Heinold ins Spiel, der die soziale Gesetzgebung, das Samaritertum und die Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen als notwendige Gegengewichte zum europaweit herrschenden Nationalismus bezeichnete – eine Manifestation, deren überraschende Menschenliebe man besser versteht, wenn man an die inneren Nationalismen denkt, die das Habsburgerreich nur noch mühsam unter Kontrolle hielt.
Derartige Probleme hatten die anwesenden Reichsdeutschen nicht. Der Berliner Bürgermeister Georg Reicke, der als Nächster das Podium {415} bestieg, schwadronierte unbefangen über die Attraktionen der österreichischen Hauptstadt, nannte in einem Atemzug den Wiener Walzer, die »lieben Wiener Frauen« und die »schönen, weichen Verse von Grillparzer« (hier durchzuckte es einen der
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