Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Zuhörer), um dann an die soeben überstandene Kriegsgefahr zu erinnern: »Seien Sie überzeugt, die treue Waffenbrüderschaft der Männer dauert fort im Deutschen Reiche!« Lang anhaltender Beifall, vermerkt die Neue Freie Presse . Beifall von Fachleuten, die in den Tagen zuvor Referaten über Kriegschirurgie und über den Einsatz von Sanitätern im Balkankrieg applaudiert hatten. Das Rettungswesen lag ihnen näher, zweifellos. Die Unfall verhütung mussten sie noch erlernen.
Kafka sagte ab, wo immer es anging, selbst die Festvorstellungen der Hoftheater, zu denen er freien Eintritt hatte. Doch wohin konnte man flüchten, wo sich ausruhen? Ja, vielleicht hätte er, ein einziges Mal in all den Tagen, in den Reiseführer schauen sollen. Dann hätte er erfahren, dass ausgerechnet im Wiener Rathaus, wo die weichen Verse Grillparzers besungen wurden, das Historische Museum untergebracht war und in diesem wiederum das ›Grillparzerzimmer‹. Als er davon hörte, war es zu spät, und noch Monate später sprach er von der versäumten Gelegenheit.
Es hatte begonnen zu regnen, der Regen wurde heftiger, stundenlang, tagelang goss es in Strömen. Ausflüge der Kongressteilnehmer fielen aus, und spektakuläre Rettungsübungen, mit denen die Samariter hofften, in die Wochenschauprogramme der Kinos zu kommen, versanken buchstäblich im Schmutz. Am Donaukanal wurde einer staunenden Menge demonstriert, wie man verzweifelte Nichtschwimmer fachmännisch aus dem Wasser holt. Am Ende waren die ›Geretteten‹ von den triefenden Zuschauern kaum zu unterscheiden. Doch auch bei diesem Spaß war Kafka wohl schwerlich zu finden. Er hatte jetzt ganz andere Rettung im Sinn. Die unumgänglichen Verpflichtungen, Vorträge, Empfänge, informellen Treffen mit Berufskollegen absolvierte er, danach tauchte er unter. Wohin, wissen wir nicht.
Drei Kongresse tanzten in seinem Kopf, kein Wunder, dass der Schmerz nicht weichen wollte. Drei Reiche riefen nach ihm, jedes in seiner Sprache. Pässe hatte er zu allen dreien. Doch anstrengend war es, immerzu Grenzen zu überschreiten, immerzu in neue Gesichter zu blicken. Ein Telegramm aus Berlin traf ein. Ihm war, als würde dort {416} eine fahle Sonne untergehen, deren letzter Strahl ihn noch soeben erreichte.
Einmal zumindest hat es doch eine Berührung gegeben, überschnitten sich die fremden Linien. Wir wissen es, nicht, weil Kafka davon erzählt hätte, sondern weil eine Kamera den denkwürdigen Augenblick festhielt. Das Foto entstand im Wurstelprater. Es zeigt eine Atelierleinwand, auf die ein Flugzeug gemalt ist. Eine Öffnung ist darin gelassen, sodass, wer dahinter sich aufstellt, scheinbar im Cockpit des Flugzeugs sitzt. Das Ulkfoto zeigt vier Passagiere: Lise Weltsch (Zionismus), Otto Pick (Literatur), Albert Ehrenstein (Literatur), Franz Kafka (Literatur, Zionismus, Unfallverhütung). Letzterer ist ganz links platziert, etwa dort, wo in einem wirklichen Flugzeug der Pilot säße. Freilich wendet er der Flugrichtung den Rücken zu. Er ist der Einzige, der lächelt.
{430} Grete Bloch: Auftritt der Botin
Bewegung ist unmöglich, wenn man klar überlegt.
Max Brod, SCHLOSS NORNEPYGGE
»Sehr geehrter Herr,
obgleich wir uns nicht kennen, erlaube ich mir, Ihnen zu schreiben, weil mir das Glück meiner Freundin Felice am Herzen liegt. Beunruhigt durch Ihr anhaltendes Schweigen, hat sie mich gebeten, mit Ihnen zusammenzutreffen. Es fügt sich gut, daß ich Anfang November dienstlich in Prag zu tun haben werde. Wenn es Ihnen also beliebt, könnten wir uns kennenlernen. Von Felice habe ich bereits viel Gutes über Sie gehört und vertraue darauf, daß unsere Zusammenkunft von doppeltem Nutzen für mich sein könnte. Es gäbe mir die Möglichkeit, die Bitte meiner Freundin zu erfüllen und zugleich einen außergewöhnlichen Menschen kennenzulernen. Bestimmen Sie bitte Zeit und Ort … «
Ein artiger Brief, niedergeschrieben um das Jahr 1998. Verfasserin ist die polnische Autorin Anna Bolecka, die sich mit ihrem Briefroman LIEBER FRANZ an genau jener imaginativen Kür versuchte, die der hermeneutisch pflichtgetreue Biograph sich versagt: das farbige Ornamentieren dessen, was die Überlieferung uns als bloße Kontur, als verwischten Abdruck einer vergangenen Wirklichkeit vor Augen stellt. Müßig die Frage, ob das erlaubt ist. Die Versuchung ist da, und sie ist stark. Freilich sollte, wer ihr erliegt, sich darüber im Klaren sein, dass noch die lebendigste Einbildungskraft den Hunger nicht zu stillen
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