Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
nach Kunst und was zu Kunst gehört, was mir alle anderen Dinge aus dem Auge rückt, daß ich sie wohl auf Augenblicke ergreifen, nie aber lang festhalten kann. – Mit einem Worte: ich bin der Liebe nicht fähig. So sehr mich ein wertes Wesen anziehen mag, so steht doch immer noch etwas höher […] Ich glaube bemerkt zu haben, daß ich in der Geliebten nur das Bild liebe, das sich meine Phantasie von ihr gemacht hat, so daß mir das Wirkliche zu einem Kunstgebilde wird, das mich durch seine Übereinstimmung mit meinen Gedanken entzückt, bei der kleinsten Abweichung aber nur um so heftiger zurückstößt.« [381]
Durch den Filter dieser Lektüre erlebte Kafka Wien, dieses »absterbende Riesendorf«, und wenn er in den folgenden Monaten auf die Stadt zu sprechen kam – vor allem in den Briefen an Grete Bloch –, so klang es beinahe, als sei er Grillparzers wegen dort gewesen. Auch die Verbitterung darüber, in einem so entscheidenden Augenblick seines Lebens von zahllosen Menschen und Verpflichtungen bedrängt zu werden, war grundiert von der ausweglos zwischen Beruf und Berufung mäandernden Existenz des Hofrats Grillparzer, und schließlich fühlte er ihn als wahrhaft personifiziertes Unglück. »Dass sich in {412} Wien ordentlich leiden lässt, das hat Grillparzer bewiesen.« Indessen hütete er sich, die Identifikation bis zum Äußersten zu treiben. Genügte es denn nicht, wenn einer diese Route gegangen war? Die Versuchung freilich blieb virulent, und noch Jahre später musste Kafka sich selbst ermahnen: »Grillparzer scheint Dir doch nicht nachahmenswert, ein unglückseliges Beispiel, dem die Künftigen danken sollen, weil er für sie gelitten hat.« Ein Nachfahre wollte er sein, kein Nachfolger. War der Absturz unausweichlich, dann vom eigenen Pfad, vom eigenen Gipfel. [382]
›Sicherheitseinrichtungen an Bord moderner Handelsschiffe‹ … ›Das technische Versuchswesen im Dienste der Unfallverhütung‹ … ›Zur Frage der Verhütung von Einstürzen bei Betonbauten‹ … Es gab kein Entrinnen. Stunde um Stunde saß Kafka im Wiener Parlament, fünf lange Tage. Keine Notizen mehr, keine Einzelheiten in Briefen – er schloss die Vorhänge, wie stets, wenn er eintauchte in die Halbwelt der Beamten und Angestellten.
Mehr als 200 Referenten hatten sich angemeldet zum ›II. Internationalen Kongreß für Rettungswesen und Unfallverhütung‹. Allein schon dieser Zustrom begeisterte die Veranstalter, und noch im unvermeidlichen, nahezu 1600 Seiten starken Kongressband, der einige Monate später erschien, ist die zeittypische kindliche Freude zu spüren an allem, was riesenhaft ist. Man war noch weit entfernt vom heutigen Ethos der Spezialisierung, und so war alles eingeladen worden, was irgendwie mit Unfällen und deren Bewältigung zu tun hatte: Ärzte, Sanitäter, Feuerwehrleute, Bergführer, Ingenieure, Eisenbahner. Zu verkraften war ein derartiger Auftrieb natürlich nur durch straffe Organisation, und während ein 86-köpfiges ›Damenkomitee‹ die mitgereisten Ehefrauen pausenlos in Bewegung hielt, wurden die Herren auf thematisch eingegrenzte Arbeitsgruppen verteilt, wo sie ihre teils schon vervielfältigt vorliegenden Referate vorlesen (Maximum: fünfzehn Minuten) und diskutieren durften. Am Ende wurden empfehlende Resolutionen gefasst, dem Plenum des Kongresses zur Bestätigung eingereicht und von dort an die Regierungen aller Staaten übersandt, die auf dem Kongress vertreten waren.
Kafka und seine Vorgesetzten waren der ›Abteilung X: Unfallverhütung‹ zugeteilt (man denkt hier unwillkürlich an die doppelsinnige ›X. Kanzlei‹ im SCHLOSS), einer Arbeitsgruppe, die, wie den Pragern {413} wohl kaum entgangen ist, eine Art Außenposten des Kongressbetriebs war. Denn die weit überwiegende Mehrzahl aller Vortragenden beschäftigte sich mit praktischen Rettungsmaßnahmen, und wenn man sich auch in der Abteilung IV an einem Referat über die ›Verhütung von Unfällen im Eisenbahnwagen durch herabfallendes Gepäck‹ erheitern konnte und in Abteilung III über ›Den Selbstmord und die Bekämpfung desselben‹ nachgedacht wurde, so war doch das Selbstverständnis des Kongresses – und kein Festredner versäumte es, den Begriff in den Raum zu stellen – das eines Samaritertreffens . Profaner ausgedrückt: Hier trafen sich Fachleute für Katastrophen, die bereits passiert waren, und die Organisation trug dem Rechnung, indem sie für Erste Hilfe, Sportunfälle, alpine Unfälle und
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