Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
vermag, sofern es ihr nicht gelingt, Evidenz zu erzeugen. Nach allem, was wir wissen, führte aber die wirkliche, die historische Absenderin jenes Briefs eine andere Sprache.
Grete (amtlich: Margarethe) Bloch war ihr Name: eine Vertraute und Mittlerin Felice Bauers, die Ende Oktober 1913 den Schriftsteller zu einem Treffen ins Prager Hotel ›Schwarzes Roß‹ bat. Ein ungewöhnlicher Schritt, der einer erst 21-jährigen Frau einiges an Selbstbewusstsein {431} abverlangte. Grete Bloch allerdings war sozial hinlänglich trainiert und hatte wenig Grund, sich von Kafkas männlicher Bildung und Tatkraft einschüchtern zu lassen. Als Absolventin einer Handelsakademie zählte sie zu der noch sehr kleinen Gruppe weiblicher Angestellter mit verantwortlicher Tätigkeit, und fern lag ihr die (damals unter ›Tippsen‹ sehr verbreitete) Haltung, den Kreis der Kollegen und Kunden im Wesentlichen als Ehepool zu betrachten. Wie Felice Bauer hatte sie sich auf eine Büromaschine spezialisiert, die ›Elliot-Fisher Beschreib- und Fakturiermaschine mit selbsttätiger Addition‹, und in mehreren Städten war sie für Firmen tätig, die dieses Gerät vertrieben, wobei sie sich auch um eine entsprechende Schulung von Bürokräften kümmerte. Als Kafka sie kennen lernte, stand sie eben im Begriff, von Berlin nach Wien zu übersiedeln – ein Intermezzo, das indessen kaum länger als ein halbes Jahr dauern sollte.
Wahrscheinlich waren Felice Bauer und Grete Bloch einander erstmals in Frankfurt begegnet, anlässlich der Büroartikel-Ausstellung, wo sie zu der »leider sehr wenig vertretenen Damenwelt« gehörten (so die Hamburger Schreibmaschinen-Zeitung ) und sicherlich froh waren, einen anderen Menschen in ähnlicher Lage zu finden. Dass es bemerkenswerte Gemeinsamkeiten gab, die über den gängigen Branchenklatsch hinausreichten, wird ihnen nicht lange verborgen geblieben sein: Auch Grete Blochs Vater war ein nur mäßig erfolgreicher Handelsvertreter, auch sie unterstützte mit ihrem Einkommen die nicht sonderlich harmonierende Familie, vor allem aber den um ein Jahr älteren Bruder. Freilich war der Student und spätere Arzt Hans Bloch aus ganz anderem Holz geschnitzt als der fatale Ferri Bauer. Er war energisch, bisweilen schroff, versuchte sich ohne Begabung an literarischen Texten und hatte sich bereits als Gymnasiast mit Haut und Haaren dem Zionismus verschrieben. Die schlagende zionistische Verbindung, der er dann beigetreten war, hatte in seinem Gesicht imponierende Spuren hinterlassen.
Kafka wusste über Felices neue Freundin bisher so gut wie nichts; dennoch scheint es ihn nicht sonderlich erstaunt zu haben, dass in das komplizierte Spiel zwischen Prag und Berlin nun eine weitere Figur eingriff. Er selbst hatte ja – mit wechselndem Erfolg und durchaus nicht wählerisch – die verschiedensten Mittelspersonen bemüht: seine Mutter, Max Brod und sogar dessen Schwester Sophie. Felice wiederum hatte sich nach Kafkas Abschiedsbrief aus Venedig erneut an Brod {432} gewandt; auch sie scheute sich in kritischen Situationen nicht, Hilfstruppen aufzustellen und dadurch den Druck zu erhöhen, ohne dass Kafka dies je als illegitim betrachtet hätte.
Dennoch wartete eine Überraschung auf ihn. Denn er hatte sich eine ältere, mütterliche Freundin vorgestellt, bieder, eher matronenhaft, womöglich die Doppelgängerin einer jener beschwerlichen Tanten, die bei den Bauers ein und aus gingen. Stattdessen traf er auf eine kleine, zart gebaute, doch äußerst agile, energiegeladene und geistesgegenwärtige junge Frau, die weder vor dem Doktor noch vor dem Autor die geringste Scheu zeigte. Und die ebenso gegenüber ihrer Auftraggeberin selbständig und beweglich blieb. Denn es stellte sich heraus, dass Fräulein Bloch keineswegs als Mediatorin gekommen war, sondern lediglich die Order hatte, Kafka zu einer Fahrt nach Berlin zu bewegen. Ansonsten zeigte sie sich wenig informiert – »Sie suchten den Grund unseres Unglücks zuerst in ganz falscher Richtung«, wunderte sich Kafka [402] –, und sie nahm sich die Freiheit, nach Erledigung ihres Auftrags ausführlich von Felice zu sprechen, in einer Art und Weise, die außer Kafka gewiss niemanden zur Umkehr bewegt hätte. Es gab viel zu erzählen, so viel, dass die beiden auch noch den folgenden Nachmittag miteinander verbrachten und sich überdies bei Grete Blochs Abreise auf dem Bahnsteig trafen. Danach war Kafka nicht nur über die Leidensgeschichte von Felices Zahnbrücken und
Weitere Kostenlose Bücher