Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Goldkronen in allen Einzelheiten unterrichtet; er hatte jetzt auch erstmals von einem der gut gehüteten Bauerschen Familiengeheimnisse erfahren, vom Debakel um die Verlobung des Bruders Ferri.
Ein halbes Jahr war es her, dass Ferdinand Bauer sich mit Lydia Heilborn verlobt hatte, der Tochter seines Arbeitgebers, eines Berliner Wäschefabrikanten. Das Schauspiel, an dem Kafka eher zufällig und ohne große Begeisterung teilgenommen hatte, stand ihm noch deutlich vor Augen: Ferri, der Hahn im Korb, die glückstrahlenden Elternpaare, und vor allem die Augen Felices, die inniger auf ihrem Bruder ruhten als auf dem eigenen künftigen Verlobten. Dieses Glück war von spürbarer Erleichterung grundiert: Denn Ferri hatte seiner Familie nicht nur auf der Tasche gelegen, er hatte sie mehr als einmal förmlich erpresst und ihr nur die Wahl gelassen zwischen öffentlicher Schande und Begleichung seiner Schulden. Doch diese Eskapaden waren nun Vergangenheit, Ferri war versorgt, und seine Heirat würde ihn und die Familie Bauer sogar noch aufrücken lassen auf der Stufenleiter {433} der ›guten Namen‹. Wer hätte das je zu hoffen gewagt? Voller Eifer wurde die festliche Hochzeit geplant, und bald war auch eine standesgemäße Wohnung gefunden.
Umso tiefer der Sturz. Denn die soziale Implosion, die nun folgte, war verheerender als alles, was die Bauers bisher zu bewältigen hatten. Es stellte sich heraus, dass Ferri – wie schon mehrfach – sich wieder einmal an Kundengeldern vergriffen und Ware auf eigene Rechnung verkauft hatte, diesmal jedoch in einem Umfang, der sich allein durch diskrete Zuschüsse von Seiten der Familie nicht mehr regulieren ließ. Mit anderen Worten: Ferri hatte die Grenze zur Kriminalität überschritten, er hatte den eigenen Schwiegervater bestohlen – in der naiven Annahme womöglich, dass die Heilborns es auf einen öffentlichen Skandal nicht würden ankommen lassen. Doch diese Familie ließ sich keineswegs erpressen, sie durchtrennte das Band, und nach dem abrupten Ende der Verlobung nebst fristloser Kündigung des Arbeitsverhältnisses musste Ferri noch froh sein, dass man ihm nicht die Polizei ins Haus schickte.
Über die tatsächlichen Ausmaße dieses Zusammenbruchs war Grete Bloch offenbar noch nicht unterrichtet, als sie Kafka kennen lernte, doch was sie zu berichten wusste, war aufwühlend genug. Immerhin erfuhr er jetzt, was er bisher nur mutmaßen konnte: wie wenig Vertrauen Felice in ihn setzte, wenn es um ihre Familie ging. Sie hatte geschwiegen, und sie hatte auch Grete keineswegs autorisiert, derartige Peinlichkeiten weiterzutragen. Monate sollten noch vergehen, ehe Kafka endlich aus erster Quelle ein paar Andeutungen erfuhr. Dennoch machte ihm die Geschichte eher das Fräulein Bloch verdächtig: Das konnte keine wirkliche Freundin sein, die einem Menschen, den sie erst seit wenigen Stunden kannte, solche Dinge zutrug.
Doch er hatte ihr etwas versprochen, und er hielt Wort. Er fuhr nach Berlin, schon am folgenden Wochenende. Es kam nicht mehr darauf an, schaden konnte das Treffen nicht, verwickelter konnte die Situation nicht werden. Noch ein Abschied, noch ein Neubeginn? »Von Venedig aus machte ich ein Ende«, schrieb er, »ich konnte den Lärm in meinem Kopf wirklich nicht mehr ertragen.« Noch in Riva hatte er geglaubt, es sei »alles ganz klar und seit 14 Tagen vollständig beendet. Ich habe sagen müssen, daß ich nicht kann und ich kann auch wirklich nicht.« Kaum in Prag, hatte er insgeheim Pläne geschmiedet, »Pläne für Weihnachten, wie ich das ganze Glück doch zusammenraffen {434} könnte im letzten Augenblick«. Er hatte Sehnsucht, sie zu sehen, aber zugleich Sehnsucht nach Wahrheit und Klarheit. »Ein dauerndes Zusammenleben ist für mich ohne Lüge ebenso unmöglich wie ohne Wahrheit. Der erste Blick, mit dem ich Deine Eltern ansehn würde, wäre Lüge.« [403]
Samstag, 8.November 1913, 22.27 Uhr: Nach achtstündiger Bahnfahrt trifft Kafka im Anhalter Bahnhof in Berlin ein. Felice Bauer ist nicht am Bahnsteig. Er geht ins Hotel Askanischer Hof. Es liegt keine Nachricht für ihn vor. Sonntag, 9.November, 8.30 Uhr: Da Kafka noch immer keine Nachricht von Felice Bauer hat, sendet er einen Fahrradboten in ihre Wohnung in Charlottenburg. Nach 9 Uhr: Der Kurier kehrt mit der Botschaft Felice Bauers zurück, sie werde sich in einer Viertelstunde telefonisch melden. 10 Uhr: Sie ruft Kafka an. 10.15 bis 11.45 Uhr: Gemeinsamer Spaziergang im Tiergarten. Sie nehmen ein
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