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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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komplizierter, leidenschaftlicher, empfindlicher, zugleich intellektuell beweglicher als Felice, insgesamt also undurchsichtiger, sogar »merkwürdig«, wie er ihr selbst schrieb. Ja, sie war offen gewesen, aber auch ein wenig vorwitzig. Er wollte von Felice hören, doch ohne den faden Beigeschmack des Klatsches. Darum war es jetzt schwer, den richtigen Ton zu treffen, und er antwortete mehr aus Pflichtbewusstsein als aus Bedürfnis. Einen Traum notierte er für sie, was etwas wunderlich war gegenüber einer Frau, die er kaum kannte. Dass sein Reisebericht ihr einige Stunden Schlaf geraubt hatte, rührte ihn, und er war in Versuchung, »irgendetwas zu tun, was dem Küssen Ihrer Hand gleichkäme« [406]   . Doch wochenlang hörte sie nichts mehr von ihm. »Falscher Brief von Bl.«, heißt es dann am 18.Dezember im Tagebuch. Ein Brief, in dem kein Wort von Felice stand. Plötzlich sprach die Botin im eigenen Auftrag. Er setzte zu einer Antwort an, ließ es wieder, verschloss alles in der Schublade des Schreibtischs.

    Kafka fühlte sich gekräftigt, das finsterste Tal der Depression lag hinter ihm. Die schlaflosen Tage in Italien, sie waren ihm gänzlich verzweifelt und öde erschienen, und doch hatte er sich dort ›erholt‹, auf geheimnisvolle Weise. Und der süße Flirt mit der Schweizerin hatte ihn – trotz des unwiderruflichen Endes – daran erinnert, dass er inmitten all der Zwangsgedanken und Gewissensqualen auch noch glücklicher, liebevoller und sogar erotischer Regungen fähig war. Seine Briefe werden jetzt bestimmter, auch präziser, die Frequenz der Klagen nimmt ab, und obwohl Kafka nicht in der Lage ist, gegenüber Felice den Entschluss zur Trennung aufrechtzuerhalten, scheint er selbst hier an Festigkeit, ja an Würde gewonnen zu haben.
    Das ist umso erstaunlicher, als doch Kafka mit seinen Geheimnissen jetzt auf sich selbst zurückgeworfen war wie lange nicht mehr. Sogar die Verbindung zu Ottla hatte sich gelockert, seit Monaten schon gab es nichts mehr, was er ihr mit Stolz hätte vorlesen können, und auch für die üblichen Badezimmerspäße war er nicht mehr in der {437} rechten Stimmung. Aufmerksam hörte er zu, wenn sie von den wöchentlichen Treffen des zionistischen ›Klubs jüdischer Frauen und Mädchen‹ erzählte, doch die Berliner Sorgen mit ihr zu beraten, wäre unklug gewesen, denn der Neugierde der Eltern, mit denen Ottla täglich viele Stunden verbrachte, vermochte sie auf Dauer ja doch nicht standzuhalten.
    Zu Brod konnte man offener sprechen. Doch Brod hörte nicht zu. Er hielt Stegreifvorträge über ›jüdische Gemeinschaft‹ und belehrte Kafka über die Notwendigkeit sozialen Denkens, er schimpfte auf seine Beamtenstellung, trauerte um den Kleist-Preis, der nicht ihm, sondern Oskar Loerke verliehen worden war, und vor allem kam er über die Niederlage nicht hinweg, die er gegenüber den Angriffen des Brenner hatte hinnehmen müssen. Dabei hatte er selbst diese Niederlage noch beschleunigt durch ein höchst ungeschicktes Manöver: Denn er hatte sein Leid ausgerechnet dem wichtigsten Mitarbeiter des Brenner geklagt, dem fundamentalistischen Tiroler Querkopf Carl Dallago, der unweit von Riva lebte und den er dort einmal besucht hatte. In mehreren Briefen bezeichnete Brod die gegnerische Kritik als »infam«, »verleumderisch« und »journalistisch« und erneuerte ausdrücklich seinen Verdacht, dies alles sei von Kraus inspiriert. Glaubte er ernsthaft, Dallago werde sich nach derartigen Ausfällen – die ja geradewegs die Seriosität des Brenner in Frage stellten – bei dessen Herausgeber für ihn verwenden? Natürlich geschah das Gegenteil: Nicht nur verwahrte sich Dallago gegen Brod, er leitete auch dessen Briefe an Ludwig von Ficker weiter, der sie wiederum dem vorgeblichen Drahtzieher Karl Kraus zeigte. Ein gefundenes Fressen. Da konnte auch der diplomatische Kafka nichts mehr retten, der in Riva – möglicherweise auf Bitten Brods – nun ebenfalls mit Dallago zusammengetroffen war. Dass Kafka sich bei dieser Gelegenheit kämpferisch für den Freund eingesetzt hätte, ist nicht sehr wahrscheinlich. Denn Dallago berichtete lakonisch: »Ich habe diese Tage Schriftsteller Kafka hier kennen gelernt. Ein wirklich sehr netter Mensch, der Wertvolles schafft.« [407]  
    Dass Brod die Folgen der eigenen Rechthaberei geradezu niederdrückten und seinen forcierten Optimismus unterhöhlten, war nicht zu übersehen – selbst für seine Gegner. »Übrigens muss der Mann unter

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