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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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mancher Abkehr im letzten Jahre viel gelitten haben«, schrieb beispielsweise der Lyriker Hans Janowitz an Ludwig von Ficker, »und wenn er ein Dichter ist, so schreibt er jetzt die besten Sachen.« [408]   {438} Janowitz wusste Bescheid – er selbst hatte soeben mit Brod gebrochen, nachdem er sich bei ihm vergebens über das aggressive Vorwort zu ARKADIA beschwert hatte. Auch Werfel schien nun definitiv übergelaufen; es war peinigend für Brod, Werfels Elogen auf Die Fackel zu lesen, während er selbst von Kraus als »Kommis Gottes« verhöhnt wurde. [409]   Konnte Werfel darüber wirklich hinweggehen, begriff er tatsächlich nicht, mit wem er sich einließ? Und der noble Kurt Wolff, der ausgerechnet jetzt, nach langem Werben, die ersten Verlagsverträge mit Kraus unterzeichnete? Waren das alles Verführte, Verblendete?
    Brod litt und klagte. Für Kafkas Sorgen hatte er kein Ohr mehr, allenfalls versuchte er, ihn abzulenken und für die eigenen Interessen zu gewinnen. So überredete er ihn, an einem philosophischen Seminar Christian von Ehrenfels’ teilzunehmen, in dem unter anderem ANSCHAUUNG UND BEGRIFF besprochen wurde. Kafka hatte das Gemeinschaftswerk seiner beiden engsten Freunde noch immer nicht gelesen, doch er nahm sich zusammen, lief zweimal mit. »Begeistert« habe sich der Freund geäußert, schrieb dann Brod in sein Tagebuch. »Verlorener Tag«, heißt es in Kafkas eigenen Notizen. [410]   Er hatte die Sitzung im Wesentlichen damit hingebracht, eine Studentin anzustarren, die Felice Bauer ähnelte.
    Die wachsende Distanz war nicht mehr zu leugnen; selbst Kafka, dessen Verlustängste leicht entflammbar waren und der deshalb solche Reflexionen mied, konnte sich nichts mehr vormachen: »Vorgestern abend bei Max. Er wird immer fremder, mir war er es schon oft, nun werde ich es auch ihm.« Brod überforderte ihn, nötigte ihn zu widerwilligem Zuhören, zwang ihn zu falschen Gesten und Freundlichkeiten, riss an seinen Nerven. Die Wahrheit war, dass Kafka sogar bereit gewesen wäre, die Zugfahrt nach Berlin um eine Woche zu verschieben, nur um nicht Brod stundenlang gegenübersitzen zu müssen – dem Menschen, den er noch vor wenigen Wochen als einzig möglichen Reisebegleiter ausdrücklich gelobt hatte. [411]  
    Doch Kafka wollte jetzt kein Fenster zur Welt, das ein anderer ihm aufhielt; er wollte selbst hinaus. Er ließ sich wieder unter Menschen sehen, besuchte Felix Weltsch, ging ins Kino und ins Kabarett ›Lucerna‹, schlenderte fast allabendlich im Staatsbahnhof umher, hörte Lesungen von Brod, Leo Fantl, Bermann und Ehrenstein, auch einen religiösen Vortrag Hugo Bergmanns. Selbst die Lust am öffentlichen {439} Vorlesen kehrte wieder, und als ihm Gelegenheit geboten wurde, im Festsaal des jüdischen Rathauses einen literarischen Abend zu bestreiten, zu dem arme Juden kostenlosen Zutritt nebst Tee und Kuchen bekamen, da zitterte er schon am Nachmittag in wohliger Erregung, in der Hand wieder einmal Kleists MICHAEL KOHLHAAS, das Schwierigste, was ein Rezitator sich vornehmen konnte.
    Auch die Bekanntschaft mit Ernst Weiß begann er jetzt bewusst zu pflegen und in eine Freundschaft zu überführen; er las DIE GALEERE und verbrachte mit Weiß, der seiner Mutter wegen an Weihnachten nach Prag kam, ganze Nachmittage und Abende. Selbst an Silvester – als Tag der Bilanz auch für Kafka ein kritisches Datum – hatte er diesmal keine Lust, allein zu bleiben, und so nahm er eine neuerliche Einladung Lise Weltschs an. Ein gemütlicher Abend unter zionistischen Freunden. Kafka kam als Letzter.

    27.November 1913: Kafka schreibt an Felice Bauer, per Einschreiben. Er erhält keine Antwort. Etwa zur selben Zeit lädt Elsa Brod Felice Bauer zum Weihnachtsfest nach Prag ein; es erfolgt keine Reaktion. Vermutlich am 14.Dezember sendet Kafka einen Eilbrief an Felice, der ebenfalls unbeantwortet bleibt. Am 18.Dezember fährt Ernst Weiß zur Lindström A. G. und spricht im Büro Felice Bauers vor, in der Tasche einen weiteren Brief Kafkas. Sie übergibt Weiß eine kurze Notiz, in der sie zusagt, Kafka noch am selben Tag ausführlich zu antworten. Auch diesen Brief erwartet Kafka vergebens. Etwa am 20.Dezember bittet Kafka erneut um Nachricht. Er erhält von Felice am folgenden Tag ein Telegramm, das einen Brief ankündigt. Dieser Brief trifft nicht ein. Nun ruft Kafka selbst in Felice Bauers Büro an. Sie verspricht erneut einen Brief, bittet aber zugleich darum, Kafka möge an Weihnachten nicht nach Berlin

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