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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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kommen. Am nächsten oder übernächsten Tag teilt ihr Kafka telegraphisch mit, dass kein Brief eingetroffen ist. Sie antwortet per Telegramm, der Brief sei schon geschrieben und bereit zum Absenden. Da am Nachmittag des 29.Dezember noch immer kein Brief eingetroffen ist, schreibt Kafka erneut. Sein Brief ist noch nicht abgesandt, als um 17 Uhr ein Brief Felice Bauers anlangt, der erste seit mehr als sieben Wochen.

    So sieht der Terminkalender der Liebe gewiss nicht aus, eher der des Sisyphos. Vorbei, vergessen die Tage, da Kafka schon nach fünf, sechs {440} Tagen »Frankfurter Schweigen« außer sich geraten war. Hier ging es um ganz anderes, Schlimmeres: Felice hatte die Unwahrheit gesagt, zum ersten Mal hatte er aus ihrem Mund eine unzweifelhafte Lüge vernommen.
    Was war zu tun? Moralische Vorhaltungen hat sich Kafka stets versagt – nicht nur deshalb, weil sie, wie er aus Selbsterfahrung wusste, zumeist nur Trotz und Widerstand wecken, sondern vor allem, weil sie entweder in die Luft gesprochen sind oder, falls sie doch einmal den Kern treffen, dort wirkungslos abprallen. Das Wesen eines Menschen ist unveränderlich. Ein Lügner lügt auch dann, wenn er die Wahrheit spricht. Eine Nichtlügnerin aber – so Kafkas augenblickliche Überzeugung – lügt nur unter Zwang, und in ihrem besonderen Wesen ist es wiederum begründet, ob sie dabei inneren Konflikten erliegt oder ob äußerer Druck genügt.
    Hätte Kafka nicht mit letzter Anstrengung an diesem heuristischen Menschenmodell festgehalten – das ganz unzulänglich war, wie genau es auch seinem antipsychologischen Denken entsprechen mochte –, so wäre die Beziehung zu Felice Bauer jetzt an ihr Ende gelangt. Gewiss, die Frage nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit erschien ihm noch längst nicht in jenes beinahe ontologische Dunkel getaucht, das er in späteren Jahren mit immer genaueren Metaphern einzukreisen suchte. »Lüge ist entsetzlich, ärgere geistige Qualen gibt es nicht.« [412]   Ein Satz, der erst 1920 unabweislich wurde, nach zahllosen Selbstversuchen. Doch schon 1913 wäre es Kafka unmöglich gewesen, mit einer bedenkenlos lügenden Frau sich zu verbünden. Er hielt Felice für stärker, als sie war, und er war erstaunt, erschüttert, als er hören musste, dass sie auch ihrer Freundin Grete Bloch nicht mehr antwortete und dies mit der gleichen Unwahrheit zu relativieren suchte – es seien eben Briefe geschrieben, aber nicht abgeschickt worden.
    Hätte Kafka gewusst, was sich in der Familie Bauer abspielte, er hätte sich nur bestätigt gefühlt. Nein, Felice war keine Lügnerin. Sie hatte vielleicht, ganz sicher, im Dunkel schlafloser Nächte versucht, Sätze zu formulieren, die das Unglaubliche glaubhaft machen. Aber es waren halbe Sätze geblieben, die man nicht zur Post geben konnte. Sie hatte nach Worten gesucht, die wahrhaftig waren und doch diejenigen nicht bloßstellten, die ihr nahe standen. Doch sie hatte solche Worte nicht gefunden.
    Es gab etwas anderes, über das Kafka viel schwerer und eigentlich niemals vollständig hinwegkam: Felice fing an zu rechnen. »Wir würden beide«, schrieb sie, »durch eine Heirat viel aufzugeben haben, wir wollen es nicht gegenseitig abwägen, wo ein Mehrgewicht entstehen würde. Es ist für uns beide recht viel.« [413]   Mit Entsetzen – doch ohne es sich recht einzugestehen – hörte Kafka hier das Echo seiner eigenen, im Tagebuch unternommenen Versuche einer »Zusammenstellung alles dessen, was für und gegen meine Heirat spricht«. Dann bin ich nie mehr allein: Das war noch ein halbes Jahr zuvor der Negativposten, der am schwersten ins Gewicht fiel. Dann bin ich immerzu allein: Das konnte ihm Felice jetzt mit der gleichen kalkulatorischen Schärfe entgegenhalten. Hatte nicht Kafka selbst in seinem Heiratsantrag sie aufgefordert zu rechnen, ausdrücklich?
»Nun bedenke Felice welche Veränderung durch eine Ehe mit uns vorgienge, was jeder verlieren und jeder gewinnen würde. Ich würde meine meistens schreckliche Einsamkeit verlieren und Dich gewinnen, die ich über allen Menschen liebe. Du aber würdest Dein bisheriges Leben verlieren, in dem Du fast gänzlich zufrieden warst. Du würdest Berlin verlieren, das Bureau, das Dich freut, die Freundinnen, die kleinen Vergnügungen, die Aussicht einen gesunden lustigen guten Mann zu heiraten, schöne gesunde Kinder zu bekommen nach denen Du Dich, wenn Du es nur überlegst, geradezu sehnst. Anstelle dieses gar nicht abzuschätzenden Verlustes würdest

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