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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Du einen kranken schwachen, ungeselligen, schweigsamen traurigen, steifen, fast hoffnungslosen Menschen gewinnen, dessen vielleicht einzige Tugend darin besteht, dass er Dich liebt. Statt dass Du Dich für wirkliche Kinder opfern würdest, was Deiner Natur als der eines gesunden Mädchens entsprechen würde, müsstest Du Dich für diesen Menschen opfern, der kindlich, aber im schlimmsten Sinne kindlich ist und der vielleicht im günstigsten Fall buchstabenweise die menschliche Sprache von Dir lernen würde. Und in jeder Kleinigkeit würdest Du verlieren, in jeder.« [414]  
    So stand es in den Akten, und es schien eindeutig genug. Dennoch traf es Kafka ins Herz, dass Felice nun tatsächlich – nein, nicht nur zu rechnen, sondern laut zu rechnen begann. So hatte er es nicht gemeint. Aber wie denn? Nun, Kafka hatte vor einem halben Jahr nicht nur etwas sagen, sondern auch zeigen wollen: ›Ich beweise Dir, dass ich Deiner wert bin, indem ich nicht zuerst an mein Glück denke, sondern an alles, was Du dabei verlieren könntest. Ich sorge mich um Deine Verluste.‹ Das war eine Geste, die nun von Felice mit einer diametral entgegengesetzten Bewegung pariert wurde: ›Ganz recht, bedenke {442} Du meine Verluste.‹ Ein Kälteschock, ein kommunikatives Debakel. Kannte sie die Spielregeln nicht?
    Wäre es Kafka gelungen, seine Erregung zu bezähmen, so hätte er sich gewiss daran erinnert, dass jener sonderbare Heiratsantrag noch einen zweiten, wesentlich tiefer eingegrabenen Subtext mit sich führte: ›Ich sage Dir besser schon jetzt, dass ich Angst habe. Das wird meine Schuld mindern für den Fall, dass wir scheitern und Du es später bereust.‹ Auch diese Schicht war ja Kafka keineswegs verborgen geblieben, und er war auch nicht davor zurückgeschreckt, Felice vor Augen zu halten, was dort unten vor sich ging: das Kalkül nackter Selbsterhaltung. Aber – und hier hätte Kafka nur noch einen weiteren Schritt tun müssen, um ins Freie zu gelangen: Waren das nicht Abgründe, die jeder in sich trägt? War es nicht denkbar, dass Felice mit ihrem Satz über das »Mehrgewicht« genau dasselbe sagte, mit, ohne oder gegen ihren Willen? Dass eben hier der Punkt war, an dem sie sich trafen?
    Doch Kafka suchte einen anderen Ausgang, und erneut wählte er die Hintertür, die seine Vorstellung eines unveränderlichen menschlichen Kerns ihm eröffnete. Felice log, aber sie war keine Lügnerin. Felice rechnete, aber sie war keine Rechnerin. »Der Satz«, versicherte er Grete Bloch, »ist allerdings so entsetzlich (und hätte er noch so viel tatsächliche Wahrheit), dass er von F. unmöglich so gefühlt sein kann. Das widerspricht F’s Wesen vollständig, muss ihm widersprechen ...« [415]  

    In einem Brief von fünfunddreißig Seiten, geschrieben an mehreren Tagen zwischen dem 29.Dezember 1913 und dem 2.Januar 1914, bat Kafka Felice Bauer erneut um die Ehe. Es sei nicht richtig, brachte er vor, dass es der Gedanke an einen Verlust sei, der ihn bisher gehemmt habe. Da sei nichts, was er aufzugeben habe, im Gegenteil, »ich bliebe auch nach der Heirat derjenige, der ich bin, und das ist ja eben das Schlimme, das Dich, wenn Du wolltest, erwarten würde«.
    Felice Bauer hat diesen Satz angestrichen. Beantwortet hat sie ihn nicht.

{443} Am absoluten Nullpunkt
Was nützte einem in den großen Momenten des Lebens jemals die Vernunft?
Julien Green, LEVIATHAN
    Das Oppeltsche Haus an der Ecke Altstädter Ring/Niklasstraße war einer jener repräsentativen Neubauten, die um die Jahrhundertwende, nach der Assanierung des jüdischen Ghettos, der verschachtelten Prager Altstadt einen bürgerlich-urbanen Akzent verliehen. Es kann den Kafkas nicht allzu schlecht gegangen sein, da sie es sich leisten konnten, im November 1913 hier eine der hellen, mit Erkern verschönerten Sechs-Zimmer-Wohnungen zu beziehen – eigentlich ein Luxus, bedenkt man, dass nach der Heirat von Elli und Valli nicht mehr sechs, sondern nur noch vier Personen sich hier ausbreiteten, der einzige Sohn bereits eine Braut hatte und für das Personal sogar noch ein separates Mansardenzimmer zur Verfügung stand. Bad und Lift waren längst selbstverständlich – etwas anderes kam für den herzkranken Hermann Kafka nicht mehr in Frage –, und so ist zu vermuten, dass die Nähe zur familieneigenen Galanteriewarenhandlung, die im Kinsky-Palais quer über den Platz und damit beinahe in Rufweite lag, ein wesentlicher Grund für die Übersiedelung war.
    Für Kafka bedeutete

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