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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Taxi. 12 Uhr: Vor dem Eingang eines Friedhofs, wo Felice Bauer an einer Beerdigung teilnimmt, verabschiedet sie sich von Kafka und verspricht, in drei Stunden anzurufen und ihn danach zur Bahn zu begleiten. 13 Uhr: Kafka, der inzwischen zu Mittag gegessen hat, ist wieder im Hotel. Er beschließt, den in Schöneberg lebenden Schriftsteller Ernst Weiß zu besuchen. 14.45 Uhr: Kafka verabschiedet sich von Ernst Weiß. 15 Uhr: Kafka trifft wieder im Hotel ein. Bis nach 16 Uhr wartet er vergeblich auf einen Anruf Felice Bauers, dann geht er zum Anhalter Bahnhof. Felice Bauer ist nicht am Bahnsteig. 16.28 Uhr: Kafka reist aus Berlin ab. 18 Uhr: Felice Bauer begleitet ihren Bruder Ferri, der angeblich nach Brüssel fährt, zum Bahnhof.

    Die Ironie ist nicht zu überhören: Ausführlich und demonstrativ sachlich erstattet Kafka Bericht. Er hatte Grete Bloch gewarnt, es war keine sehr aussichtsreiche Sache, für die sie sich einsetzte. Und hätte er ihr offenbaren dürfen, was bei jenem längstens neunzigminütigen Spaziergang besprochen wurde, um dessentwillen er zwei Tage unterwegs war, hätte er erzählen dürfen, dass er und Felice sich über nichts hatten einigen können, dass die geplante Verlobung nun ausdrücklich auf Eis gelegt war … Doch er blieb diskret. All das sollte Felice selbst ihrer Freundin berichten, wenn sie denn Lust dazu verspürte. Immerhin, Grete Bloch war es, der er diesen Ausflug verdankte; darum wollte er ihr auch die Bilanz nicht ersparen: »So bin ich von Berlin weggefahren, {435} wie einer der ganz unberechtigterweise hingekommen ist. Und darin lag allerdings eine Art Sinn.« [404]  
    Dass Kafka schon am ersten Tag nach seiner Rückkehr einen 16-seitigen, den ganzen Abend in Anspruch nehmenden Bericht über sein Berliner Rendezvous verfasste, deutet freilich darauf hin, dass er selbst es war, der zunächst Klarheit schaffen und Bilanz ziehen musste. Das hätte er ebenso gut im Tagebuch tun können – tatsächlich finden sich im Brief an Grete Bloch Passagen, welche die ganze Wirrsal der Felice-Geschichte in distanzierter, durchgearbeiteter Form präsentieren, als halte er Selbstgericht vor unsichtbaren Geschworenen.
»Ich muss vorausschicken, dass ich F. eigentlich in Gestalt von 4 mit einander fast unvereinbaren und mir fast gleich lieben Mädchen kenne. Die erste war die, die in Prag war, die zweite war die, welche mir Briefe schrieb (die war in sich mannigfaltig aber doch einheitlich) die dritte ist die mit der ich in Berlin beisammen bin und die vierte ist die, die mit fremden Leuten verkehrt und von der ich in Briefen oder in ihren eigenen Erzählungen höre. Nun die dritte, die hat nicht viel Neigung zu mir. Nichts ist natürlicher, ich sehe nichts als natürlicher an. Bei jeder Rückreise aus Berlin habe ich es mir mit Schrecken gesagt, diesmal überdies noch mit dem Gefühl wie gerecht es mir zukommt. Es ist F’s guter Engel der sie so führt, der sie so knapp und vielleicht nicht einmal knapp an mir vorüberführt.« [405]  
    An diesem Punkt war er nicht zum ersten Mal. Für Grete Bloch hingegen war das eine ganz neue, überraschende Perspektive: Wenn es ein guter Engel war, der die beiden voneinander entfernt hielt, dann war sie selbst, die Mittlerin, ein böser Engel. War es das, was Kafka ihr sagen wollte? Nun, ihre Mission war ohnehin beendet. Sie hatte getan, was ihr aufgetragen war, und sie hatte es mit bestem Gewissen getan. Für das weitere Schicksal dieser beiden Menschen trug sie keine Verantwortung.
    Doch Grete Bloch blieb im Spiel. Kein Zweifel, dass Kafkas Selbstironie, seine humorvolle Offenheit sie beeindruckt hatte, und seine Schilderung der ebenso traurigen wie vergeblichen Reise rührte sie mehr, als ihr gut schien. Denn sie selbst war jetzt für solche Unglücksgeschichten empfänglicher, als es ihrem sonst aktiven, alles andere als romantischen Naturell entsprach. Fern von ihren Freunden, ihrer Familie blieb sie in Wien fremd und unglücklich, die neue Stellung war gut bezahlt, aber freudlos, das Pensionszimmer unwirtlich, und nur mühsam konnte sie sich dazu aufraffen, in ihren freien Stunden das {436} Bett zu verlassen. Sie fühlte sich verloren, abhängig, weich, und das hieß für sie: weichlich.
    Kafka hingegen blieb misstrauisch. Gewiss, über die ferne Braut – die ehemalige Braut? – endlich einmal frei sprechen zu können: Es war förmlich ein Durchatmen, und dafür war er dankbar. Doch er spürte die Nähe neuer Verwirrungen. Fräulein Bloch war

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