Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
diese neuerliche ›Verbesserung‹ vor allem Ruhe . Seit der Promotion, seit mehr als sechs Jahren, hatte er ein immer wieder als Familienpassage missbrauchtes Zimmer bewohnt, das einerseits kalt war – erst recht bei ewig offenen Fenstern –, andererseits aber auch heiß wegen der fatalen Nähe des elterlichen Schlafzimmers. Diesem »Hauptquartier des Lärms«, dem er sogar ein kleines literarisches Denkmal gesetzt hatte, trauerte er gewiss nicht nach. Auch hatte die neue Wohnung zwei separate Eingänge, was den sozialen Binnendruck entschieden minderte. Man konnte jetzt Besucher empfangen, ohne sie gleich ins Innerste einlassen zu müssen – so fanden {444} beispielsweise die Hebräischstunden, die Kafka nach dem Krieg nahm, nicht in seinem eigenen Zimmer statt, sondern in einem kleinen Nebenraum hinter der Küche.
Trat er ans Fenster, so blickte er freilich nicht mehr auf Fluss, Brücke, Schwimmbad und Parkanlagen, sondern auf das von Erinnerungen förmlich überkrustete topographische Zentrum seiner Lebenswelt, den Altstädter Ring. »Hier war mein Gymnasium«, erklärte er Jahre später einem Besucher die Aussicht, »dort in dem Gebäude, das herübersieht, die Universität und ein Stückchen weiter links hin mein Büro.« Und keine hundert Meter von hier entfernt wurde ich geboren, hätte er hinzufügen können, da drüben hinter dem Rathaus, im Haus ›Minuta‹, haben wir gewohnt, als ich zur Volksschule ging, auf der gegenüber liegenden Südseite des Platzes, über der Apotheke ›Zum Einhorn‹, ist ein literarischer Salon, in dem ich vor ein paar Jahren verkehrte, und im Stockwerk unter meinem Klassenzimmer ist jetzt das Geschäft meiner Eltern. »In diesem kleinen Kreis«, setzte Kafka melancholisch hinzu und beschrieb mit dem Finger ein paar kleine Kreise in der Luft, »ist mein ganzes Leben eingeschlossen.« [416]
Umso rascher lebte er sich hier ein, und es ist offenkundig, dass neben den in Riva aufgenommenen Impulsen nun auch die neue Umgebung als stimulierende Irritation wirkte – er erblickte das Vertraute, doch aus ungewohnter Perspektive. Wieder weitaus häufiger öffnet jetzt Kafka das Tagebuch, und die literarischen Anläufe gewinnen deutlich an Dichte und Bildkraft. »Woher die plötzliche Zuversicht?«, fragt er sich, wohl kurz nach dem Umzug; und wenig später, als ihm zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder ein paar zusammenhängende Seiten gelingen, heißt es gar: »Die Festigkeit aber, die das geringste Schreiben mir verursacht, ist zweifellos und wunderbar.« [417]
Er hätte diesen Satz umdrehen können. Schreiben, wie Kafka schrieb, setzt Festigkeit voraus : Allein die erforderliche Disziplin, um Tag für Tag, Woche für Woche immer aufs Neue – und ohne die Gewissheit baldigen Erfolgs – allen inneren und äußeren Störungen zum Trotz die Hefte zu öffnen, stillzusitzen und einen Zustand gelockerter Konzentration halb zu erwarten, halb herbeizuführen, ohne ihn doch herbei zwingen zu können: Dieser prekäre Akt der Selbststeuerung verlangt einen Willen. Und dies umso mehr, als ja Kafka sich nicht nur der chronischen Depression und der damit einhergehenden mentalen Verödung zu erwehren hatte, sondern ebenso einer unkontrollierten {445} inneren Überflutung, die nicht befruchtet, sondern zerstört.
Überblickt man Kafkas Leben und Schreiben im Winter 1913/14, so fällt freilich eine eigenartige Inkonsistenz ins Auge. Die neue, von der Reise mitgebrachte Energie setzt seine Feder in Bewegung, sie schärft Denken und Blick, und noch in der – für seine Verhältnisse – gelassenen Bestimmtheit, mit der er sozialen Verpflichtungen nachkommt, ist ihre Wirkung unverkennbar. Allein in Bezug auf Felice Bauer scheint dies alles nicht zu gelten, hier dauert jener mechanische Wechsel zwischen Lähmung und blindem Kampf fort, der Kafka Schritt für Schritt in eine unhaltbare Position bringt. Er fordert Antwort von ihr, genauere Antwort, schlägt sich die Stirn blutig an ihrem Schweigen, dessen Ursache er an ganz falschem Ort vermutet. Diese Hartnäckigkeit, versuchte einmal Grete Bloch zu trösten, sei doch eigentlich ein gutes Zeichen – für sie wohl das Zeichen, dass er es noch immer ernst meinte. »Darin liegt etwas Wahrheit«, antwortete Kafka. »Hartnäckigkeit kann aber auch das Ergebnis der Verzweiflung sein.« [418] Und darin lag wohl mehr Wahrheit. Hartnäckig ist auch das Insekt, das zur Flamme will.
Man könnte von ›Abspaltung‹ sprechen – die
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