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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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lockte.
    Tatsächlich ist es verblüffend, wie rasch und bedenkenlos sich Kafka an diesen neuen, unverhofften Wärmestrom ankoppelt. Zu Recht hat Canetti unmittelbar nach Publikation der Briefe darauf verwiesen, dass Kafka gegenüber Grete Bloch ein diskursives Muster bis ins Kleinste wiederholt, das schon seine ersten Briefe an Felice kennzeichnet.
»Es ist nun sie, über die er alles wissen will, und er stellt dieselben alten Fragen. Er will sich vorstellen, wie sie lebt, ihre Arbeit, ihr Bureau, ihre Reisen. Er will sofortige Antworten auf seine Briefe, und da sie manchmal mit Verspätung, wenn auch ganz geringer, kommen, bittet er sie um einen regelmäßigen Turnus, den sie allerdings ablehnt. Er interessiert sich für Fragen ihrer Gesundheit; er will wissen, was sie liest. […] Die Abbreviatur jener früheren Korrespondenz fällt ihm natürlich leichter als damals das Original, es ist eine Klaviatur, auf der er sich eingeübt hat. Etwas Spielerisches ist an diesen Briefen, was die früheren sehr selten hatten, und er wirbt ganz unverhohlen um ihre Neigung.« [424]  
    Ein Leser, der Kafkas zweigleisige Korrespondenz vom Frühjahr 1914 verfolgte, ohne zu wissen, wie die beteiligten Adressaten zueinander stehen – er würde wohl nicht sofort erraten, wer die ›Brieffreundin‹ und wer die zur Ehe Erwählte ist. Hier das »liebe Fräulein Grete«, dort eine gewisse »F.«. Hier »herzlichste, herzlichste Grüsse Ihres Franz K.«, dort »Franz«, »Dein Franz« oder wiederum »F.«. Gewiss, von Hoffnung wie von Liebe ist nur in den Briefen an Felice die Rede. Doch diese Gefühle erscheinen förmlich ausgehöhlt von Gesten der Unterwerfung und von der teils unterschwelligen, teils expliziten Diskussion eines fortwährend anwachsenden Schuldkontos. Schon hier triumphiert Kafka als Richter über sich selbst, der gar nicht mehr aus persönlichen Motiven, sondern im Dienst einer Sache urteilt – einer Minne, die von Moral wie vergiftet erscheint, und einer Moral wiederum, die auf dem Betonsockel juridischer Logik ruht: Hier wird abgerechnet. »Im Bureau. Es gibt viel zu tun. Böse war ich nicht. Ich war wütend, traurig und einiges dergleichen, aber böse nicht. […] Der Genauigkeit halber füge ich hinzu, dass Dein Nichtschreiben nicht zwei, sondern 3 Tage gedauert hat.« Denselben Gegenstand ergreift er vor Grete Bloch mit ganz anderem Schwung: »ein Brief ist bereits nicht {450} beantwortet, der zweite wird morgen nicht beantwortet werden und so wird es weitergehn, aber unmöglich lange.« [425]  
    Es war eine der wenigen Gelegenheiten, da Kafka Entlastung suchte in kalter Ironie. Sie stand ihm schlecht zu Gesicht, vor allem aus der Sicht Grete Blochs, denn Ironie war nun wahrhaftig nicht zu vereinbaren mit der ungebrochenen, zwanghaften Beharrlichkeit, die ihn an die verschlossenen Türen Berlins hämmern ließ. Doch die neue Vertraute scheint es ihm erspart zu haben, sich diesem Widerspruch zu stellen, und es findet sich auch keinerlei Anzeichen dafür, dass sie ihm jemals die Grundsatzfrage, die eine, sich aufdrängende Frage gestellt hätte: Was suchen Sie eigentlich bei Felice? Das verbot sich. Oder besser: Das hatte Kafka, in seiner bewährten Manier defensiver Vorwegnahme, schon selbst verhandelt und damit von der Agenda gestrichen: »Sie sagen in Ihrem Brief, was mich vor allem gewundert hat, kein Wort des Vorwurfs, ja nicht einmal des Staunens darüber, dass ich F. wieder um die Heirat gebeten habe. Ich habe es getan, weil es nicht anders gieng, viele andere Erklärungen habe ich dafür nicht.« [426]   Das war überhaupt keine Erklärung. Doch vor der einen Frage glaubte sich Kafka damit sicher.
    Ein Spiel zu dritt. Einer oder eine musste verlieren. Kafka spielte mit, solange es eben ging, von Skrupeln geplagt, doch gierig nach Wärme, bisweilen wahrhaftig, dann wieder taktierend. Kein Zweifel, dass die Korrespondenz mit Grete Bloch ihn stabilisierte, weit über alle Vermittlung hinaus, die sie je hätte leisten können. Nun hatte er noch eine Helferin, gewiss, die wievielte schon. Aber kam es darauf noch an? War er ohnehin nicht schon am Punkt tiefster Demütigung angelangt, am absoluten Nullpunkt, dort, wo sich nichts mehr von selbst bewegt?

    Am Freitag, dem 27.Februar 1914, reiste Kafka zum vierten Mal nach Berlin, unangemeldet diesmal und entschlossen, sich nicht mehr abwimmeln zu lassen. Er hatte einen kostbaren Tag Urlaub genommen, denn er wollte es geschickter anfangen. Im Büro, an einem

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