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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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psychologische Metapher liegt nahe genug. Doch sie ist nicht präzis. Denn Kafkas gesteigerte Wachheit durchdringt alles gleichermaßen, auch das Schmerzlichste: Er wagt es, die Entfremdung von Brod klar zu benennen, er notiert allgemeine Gedanken über den Selbstmord, ohne dabei zu vergessen, dass diese Frage wieder einmal auf der eigenen Tagesordnung steht, und er ist, solange er für sich schreibt, sogar fähig, eine nüchtern-empathische, selbsttherapeutische Position zu beziehen: »Hass gegenüber aktiver Selbstbeobachtung«, heißt es Anfang Dezember im Tagebuch. »Seelendeutungen wie: Gestern war ich so undzwar deshalb, heute bin ich so und deshalb. Es ist nicht wahr, nicht deshalb und nicht deshalb und darum auch nicht so und so. Sich ruhig ertragen, ohne voreilig zu sein, so leben wie man muss, nicht sich hündisch umlaufen.« [419]   Das Ziel liegt klar vor Augen. Doch drei Tage später beschließt er, Ernst Weiß auf eine sinnlose Mission in Felices Büro zu schicken.
    Kafka verhält sich – dies wäre vielleicht das genauere Bild – wie jemand, der im Jahr 1912 den eigenen Keller angezündet hat, um sein Haus zu erwärmen. Löscht er das Feuer, muss er fürchten zu erfrieren. {446} Löscht er es nicht, wird es bald nichts mehr geben, das zu wärmen ist. Die Lösung kann nur darin bestehen, alle Türen fest zu verschließen, das Feuer wieder auf einen Raum zu begrenzen und die anderen, nun von fern erwärmten Zimmer zu bewohnen wie zuvor. Dazu ist es aber notwendig, jenes Untergeschoss, das heiße Fundament des Hauses, immer wieder aufzusuchen, um das sich erschöpfende Feuer neu anzufachen, ganz gleich, mit welchen Mitteln, und sei es mit den wertvollsten Vorräten, ganz gleich, was man am sicheren Schreibtisch und nüchternen Sinnes sich vorgenommen oder untersagt hat. Dort unten hat man keine Wahl.
»Ich liebe Dich Felice mit allem was an mir menschlich gut ist, mit allem, was an mir wert ist, dass ich mich unter den Lebendigen herumtreibe. Ist es wenig, so bin ich wenig. Ich liebe Dich ganz genau so wie Du bist, das was mir an Dir gut scheint, wie das, was mir nicht gut scheint, alles, alles. So ist es bei Dir nicht, selbst wenn alles andere vorausgesetzt wird. Du bist mit mir nicht zufrieden, Du hast an mir verschiedenes auszusetzen, willst mich anders haben als ich bin. Ich soll ›mehr in der Wirklichkeit‹ leben, soll mich ›nach dem was gegeben ist, richten‹ u.s.f. Merkst Du denn nicht, dass Du, wenn Du solches aus wirklichem Bedürfnis willst, nicht mehr mich willst, sondern an mir vorüber willst. Warum Menschen ändern wollen, Felice? Das ist nicht recht. Menschen muss man nehmen wie sie sind oder lassen wie sie sind. Ändern kann man sie nicht, höchstens in ihrem Wesen stören. Der Mensch besteht doch nicht aus Einzelheiten so dass man jede für sich herausnehmen und durch etwas anderes ersetzen könnte. Vielmehr ist alles ein Ganzes und ziehst Du an einem Ende zuckt auch gegen Deinen Willen das andere. Trotzdem, Felice, – sogar das, dass Du an mir Verschiedenes auszusetzen hast und ändern möchtest, sogar das liebe ich, nur will ich, dass Du es auch weisst.«
    Dies schreibt Kafka in seinem zweiten Heiratsantrag vom 2.Januar 1914. Es ist die Stimme einer erotisch durchwebten und dennoch beinahe abgeklärten, milden Vernunft, ein reiner Ton, wie ihn Kafka noch wenige Monate zuvor gewiss nicht zustande gebracht hätte. Unmöglich, dies ohne Rührung zu lesen, und ebenso unmöglich, sich vorzustellen, dass Felice Bauer es ungerührt beiseite gelegt hat. Doch im selben Brief finden sich andere Sätze, die wie hässliche Zwischenrufe hineinfahren und den reinen Ton nachhaltig stören:
»Ich wage es sogar zu sagen, dass ich Dich so lieb habe, dass ich Dich selbst dann heiraten wollte, wenn Du ausdrücklich sagtest, dass Du nur eine ganz laue Neigung und auch die nur ungewiss, für mich übrig hast. Es wäre {447} schlecht und gaunermässig, Dein Mitleid so auszunutzen, aber ich wüsste mir nicht anders zu helfen.« [420]  
    Das ist wieder die Angststimme aus dem Feuer, die Umklammerung, jene unselige Überlagerung von Verschmelzungswunsch und Kalkül, die gewiss auch jede andere, reflektiertere und emotional subtilere Frau hätte zur Verzweiflung bringen müssen. Wusste Kafka nicht, dass man einen Menschen nicht auf den Knien gewinnt? Dass man auf einen, der auf den Knien liegt, hinabsehen muss, ob man will oder nicht? Und dass daher Selbsterniedrigungen, einmal ausgesprochen, sofort

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