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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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wahr werden?
    Kafka wusste dies alles. Und gegenüber Grete Bloch konnte er es auch eingestehen: »Tiefer demütigen als ich es in dem Brief getan habe, kann man sich gar nicht mehr« [421]   . Doch warum mussten vier Wochen vergehen, Wochen vergeblichen Wartens, ehe Kafka sich wieder aufzurichten vermochte? Weil er jetzt den suchenden Blick woandershin gerichtet hatte, weil er daran zu denken begann, ein zweites Feuer zu unterhalten, nun, da das erste unwiderruflich zu verlöschen schien.

    Zwei Verlassene. Der prospektive Bräutigam in Prag, dessen Liebesbriefe archiviert, aber nicht beantwortet werden. Grete Bloch in Wien, seit Monaten ohne Nachricht von ihrer Freundin Felice, von der eigenen Familie kaum ein freundliches Wort (trotz reichlicher Geldsendungen), kein Laut von jenem melancholischen, knabenhaften Prager Beamten, der zwei Briefe ohne Antwort lässt und im Büro nicht einmal ans Telefon kommt.
    Ende Januar, endlich, taten sie sich zusammen. Warum Kafka jetzt, nach langem Zögern, den dargebotenen Strohhalm doch noch ergriff, ist nicht schwer zu erraten: zu stark die Versuchung, dort, wo kein Durchkommen war, wieder einmal auf Vermittlung zu setzen. Ernst Weiß war ja nicht sonderlich erfolgreich gewesen; immerhin hatte er so etwas wie eine Antwort hervorgelockt. Dass sich Brods Ehefrau Elsa neuerdings um Felice bemühte, geschah wohl auch nicht ganz ohne Kafkas Einwirken. Der eigenen Mutter hatte er – entgegen heftigem inneren Widerstand, ja Widerwillen – endlich gestanden, wie es um seine Heiratspläne bestellt war, obwohl er längst wusste, dass sie vor eigenmächtigen Interventionen keineswegs zurückschreckte. Schließlich spielte er sogar mit dem Gedanken, Felices Schwester Erna zu mobilisieren, deren bloßer Anblick ihm schon Vertrauen eingeflößt hatte.
    Nun, warum nicht auch Grete Bloch? Sie war bereit zu helfen, rasch und bedenkenlos, und dass es dabei nicht ganz ohne Schwindeleien und heikle Enthüllungen abging, konnte ihn nach dem Verlauf schon der ersten Zusammenkunft wohl kaum überraschen. Ganz geheuer war ihm allerdings nicht, als Grete Bloch ihm einen älteren Brief Felices zur Ansicht schickte, in dem er als »armer Kerl« tituliert wurde. Und vollends unheimlich wurde es, als Felice, von einem offenbar scheinheilig besorgten Brief Gretes halbwegs genötigt, endlich eine hastig hingeworfene, inhaltsleere Botschaft an Kafka schickte, die mit den Worten schloss: »Du hörst auch wieder einmal mehr von mir. Ich mußte diese Karte schreiben.« [422]   Das also war die Antwort auf seinen Heiratsantrag. Sie wollte nicht, aber sie musste . Eine solche Macht besaß ihre Freundin.
    Gänzlich ignorieren konnte Kafka das Zucken des moralischen Seismographen nicht. Nein, eine Lüge gegenüber Felice, das durfte nicht sein; selbst in seinem langen Neujahrsbrief, mit dem er einen Neubeginn förmlich erzwingen wollte, schien es ihm richtig, von Riva zu erzählen, denn niemand sollte ihm vorwerfen können, mit irgendwelchen Geständnissen zu spät herausgerückt zu sein. Doch es war ein eher juridischer Begriff von Wahrheit, dem er da Genüge tat. Und es war eine Lüge ganz anderer Dimension, auf die er sich jetzt einließ. Denn während sich die Beziehung zu Felice allmählich von einer Passion zu einer Aufgabe, zu einem Projekt wandelte, entwickelte sich zwischen Kafka und Grete Bloch ein emotionaler Stoffwechsel, den die junge Frau vermutlich erotisch missdeutete, während Kafka genau jenes süße Gefühl einer lebendigen Teilhabe genoss, das ihm die ersten Briefe aus Berlin eingeflößt hatten und das ihm seither abhanden gekommen war.
    Sie hatte es provoziert, wahrscheinlich in Not, aber sicherlich bewusst, entsprechend ihrer wachen Intelligenz und Beobachtungsgabe. Anders als Felice las und bedachte Grete Bloch jedes Wort. Dass Mitleid mit Mädchen, mit allen Mädchen, das einzige soziale Gefühl sei, das ihm niemand bestreiten könne, hatte ihr Kafka schon gleich zu Beginn gestanden (und das war nicht übertrieben, denn er schmolz dahin, wenn er von weinenden Mädchen nur hörte ). Nun empfing er zu seinem Erstaunen einen Brief, in dem sie ihm eigene »mitteilungsunwürdige Zustände« offenbarte, mit dem lockenden Vorbehalt freilich, dass ihn dies ja wohl kaum interessieren werde. [423]   Und sie ließ ihn, {449} nach der ersten lebhaften Reaktion, kaum jemals warten – als wüsste sie, dass es vor allem die Konstanz der Zuwendung war, die Kafka unfehlbar aus seiner Höhle

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