Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Werktag, würde sie ihn empfangen müssen .
Alles ließ sich gut an. Sie trat ihm freundlich entgegen, nicht einmal übermäßig erstaunt, zeigte ihm ihr Büro (sein imaginärer Wohnsitz seit eineinhalb Jahren) und verbrachte mit ihm die Mittagspause in einer Konditorei. Zum Geschäftsschluss holte Kafka sie ab, Arm in {451} Arm gingen sie durch die Straßen Berlins, zwei Stunden konnte sie noch erübrigen, mehr leider nicht, dann später am Abend würde sie »aus geschäftlichen Gründen« auch noch an einem Ball teilnehmen müssen, der für Kafka selbstverständlich off limits war.
Dabei hätte er es vorläufig belassen sollen, Sonntag war auch noch ein Tag, doch es hielt ihn nicht. Kafka wird es bereut haben, die Situation nicht weiter entspannt, den Boden ein wenig vorbereitet zu haben. Ohne sich von ihrem unverkennbaren Ausweichen beirren zu lassen, bohrte er weiter, verlangte Erklärungen, stellte endlich die Frage – und was er nun zu hören bekam, war schlimmer als die schwärzesten Phantasien, die diese Reise begleitet hatten.
»F. hat mich ganz gern, das reicht aber ihrer Meinung nach für eine Ehe, für diese Ehe nicht hin; sie hat eine unüberwindliche Angst vor einer gemeinsamen Zukunft; sie könnte meine Eigenheiten vielleicht nicht ertragen; sie könnte Berlin nicht entbehren; sie fürchtet sich schöne Kleider entbehren zu müssen, III Klasse zu fahren, schlechtere Teaterplätze zu haben (das ist nur lächerlich, wenn es aufgeschrieben wird) u.s.w. […] sie würde, wie sie sagt, einen andern nicht heiraten; meine Briefe würde sie nie wegwerfen, meine Photografien nicht zurückgeben wollen, Ihre Photografien nicht zurücknehmen, gern weiter schreiben, allerdings auch damit einverstanden sein, gar nicht mehr zu schreiben.« [427]
Dies also das ›Material‹, mit dem Kafka die folgende Nacht im Askanischen Hof verbrachte, eine schlaflose Nacht gewiss, doch wann hatte er je geschlafen in diesem verwünschten Hotel? Es kam ihm zu, was jetzt geschah. Was er hörte, war das Echo der eigenen Stimme. Er selbst hatte ihr diese Angst eingeflößt, Tropfen für Tropfen, und schreckenerregende Bilder, ja ganze Szenarien eines höllenmäßigen Zusammenlebens hatte er erfunden, um die Wirkung noch zu verstärken. Nicht einmal aus seinem Neujahrsbrief, mit dem doch eine neue Zeitrechnung hätte beginnen sollen, hatte er seine Keller- und Höhlenvisionen fernhalten können: »statt des geselligen Verkehrs«, hieß es dort, »und statt Deiner Familie hättest Du einen Mann, der meistens (wenigstens jetzt meistens) trübsinnig und schweigsam ist und dessen persönliches seltenes Glück in einer Arbeit besteht, welche Dir, als Arbeit, notwendiger Weise fremd bliebe«. [428]
Auch diesen Satz hatte Felice Bauer angestrichen. Das sollte ein Heiratsantrag sein? Gewiss, sie hatte Angst. Es war kein Verlass auf diesen Menschen, und was er von Riva erzählte, konnte niemanden {452} überraschen. Aber da war noch etwas anderes, das sie quälte, mehr quälte, und es kann ihr in jener Nacht zum 1.März, in Charlottenburg, fünf Kilometer von Kafkas Hotel entfernt, nicht viel besser ergangen sein als ihm.
Ferri, der Dieb, der Versager, der geliebte Bruder war soeben dabei, die Koffer zu packen: Flucht nach Amerika, es war der letzte verbliebene Ausweg. Die Schiffspassage war reserviert, der Abreisetag stand fest. Zehn Tage noch. Er konnte sich in Berlin nicht mehr sehen lassen, in seiner Branche, unter Bekannten und Kollegen schon gar nicht. Von der ersten Sprosse der Leiter war er abgestürzt, war zu einem sozialen Typus geworden, den selbst die Karikaturisten der Tagesblätter schon kannten: der unehrliche Kassierer, der mit einem Fußtritt aus Europa hinausbefördert wird. Versuche, irgendwo anders unterzuschlüpfen, waren sämtlich gescheitert. Ferri hatte die Familie an den Rand einer sozialen Katastrophe geführt, es hatte Auftritte gegeben, wie sie bislang selbst die wenig einträchtigen Bauers nicht gekannt hatten. Am schlimmsten traf es Felice: Woher sollte sie die Energie nehmen, Briefe zu beantworten und in solcher Lage über das eigene Schicksal zu reflektieren? Verwandte waren mühsam zu beruhigen, Ferri vor weiterem Niedergang zu bewahren. Sie kaufte ihm ein Ticket für die Überfahrt. Sie stellte das Startkapital bereit, schickte Geld in die Vereinigten Staaten. Dennoch schied er in Unfrieden, undankbar wie je. Erst nach etlichen Wochen und auf Umwegen erfuhren die Bauers, dass Ferri heil angekommen
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