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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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hundertsten Mal gingen sie die Möglichkeiten durch, dem verhassten Büro zu entkommen. Ja, die Zeiten, da die Freunde sich hierhin und dorthin träumen durften, ohne dass ihr soziales Federgewicht sie am Boden hielt, waren lange vorüber. Brod war verheiratet, würde bald vielleicht auch Vater sein, und überdies {457} wuchs seine lokale Autorität als Verfechter des Zionismus. Hier waren neue Verpflichtungen und Bindungen gewachsen, die ihn einen Auszug aus der Heimatstadt gar nicht mehr ernsthaft erwägen ließen. Schreiben konnte man überall, berühmt werden ebenfalls. Und wenn schon keine Hoffnung bestand, einst ein großes Erbe an der Riviera zu verzehren, warum dann nicht von Prag aus die Fäden ziehen? Es waren jetzt mehr denn je die Theaterwerke und vor allem sein TYCHO BRAHE, von denen er sich den Ausweg aus dem Stumpfsinn (und insgeheim auch: der Peinlichkeit) des Postbeamtendaseins erhoffte.
    Ganz anders Kafka: Kündigen und Prag verlassen – stets spricht er darüber, als sei dies ein und dasselbe, als ginge es darum, der Stadt zu kündigen. Er alterte nicht in Prag, schien ihm, nichts bewegte sich hier. Karlsbrücke, Hradschin, Kettensteg, Kronprinz-Rudolfs-Quai, Karlsbrücke … Es gab Rundgänge, die er förmlich abgenutzt hatte. Die Familie hing am Altstädter Ring, und Kafka mit ihr, wie ein Kind am Rock der Mutter. Überall Gewesenes, Erinnertes, zudringlich Vertrautes. »Für einen nur irgendwie beunruhigten Menschen«, schrieb er einige Jahre später, »ist der Heimatort, selbst wenn er sich darüber gern täuscht, etwas sehr Unheimatliches, ein Ort der Erinnerungen, der Wehmut, der Kleinlichkeit, der Scham, der Verführung, des Missbrauchs der Kräfte.« [432]  
    Und war es denn mit den Menschen viel anders? Er kannte viele Gesichter, lüftete den Hut hierhin und dorthin. Die Kellner im Kaffeehaus wussten, dass er keinen Kaffee trank und dass er ein Freund des berühmten Werfel war. Die kleine, inzestuöse Gemeinschaft der Zionisten schätzte und respektierte ihn, auch wenn er schweigsam blieb. Die wenigen vertrauten Freunde aber dehnten ihre Kreise aus, überholten ihn, fanden ihren Ort, einer nach dem andern. Felix Weltsch war der Letzte, seit kurzem war auch er entschlossen zu heiraten, allem vorhersehbaren Unglück zum Trotz, und Kafka war beinahe froh darum, bedeutete dies doch das Ende einer »Art junggesellenhafter Bruderschaft«, die »geradezu gespensterhaft war in manchen Augenblicken«. [433]   Was aber an deren Stelle treten sollte, das wusste er nicht.
    Nein, es war nicht gleichgültig, wo man schrieb. Auch Ernst Weiß kannte Prag, doch hier zu leben und zu arbeiten wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Kein bedeutender Verlag, keine wichtige Zeitschrift, keine führende Bühne weit und breit; ebenso gut hätte er in {458} den Böhmerwald übersiedeln können. Er verstand nicht, worauf Kafka noch wartete; eine Frau, auf die zu warten sich lohnte, war doch diese Berliner Angestellte gewiss nicht; ja, Weiß begann sie allmählich dafür zu hassen, dass sie den Freund daran hinderte, zu tun, was seine Bestimmung war.
    Tatsächlich aber war Kafka mit seinen Überlegungen schon weiter gediehen, als Brod und Weiß wohl ahnten. Er liebte es nicht, halbe Entschlüsse vorzeitig mitzuteilen, und da er sich nur schwer und langsam entschloss, bot es ein seltenes und gerade darum ausgekostetes Vergnügen, andere vor vollendete Tatsachen zu stellen – auch wenn Brod sich über diese »Geheimniskrämerei« immer wieder ärgerte. Gerade diesmal aber schien es Kafka das einzig Richtige, methodisch vorzugehen und die Entscheidung nicht durch oberflächliche Einreden anderer beeinflussen zu lassen. Kündigen, den Staatsdienst verlassen, das war leicht gesagt. Doch hier ging es darum, mit einer einzigen Unterschrift Literatur, Liebe und physische Existenz durcheinander zu wirbeln.
    Die Frage des Einkommens schien ihm das geringste Hindernis, ja, hier durfte er sich dem ängstlich buchführenden Brod sogar überlegen fühlen. Hatten sie nicht gemeinsame Bekannte, die sich mit zwei, drei vom Munde abgesparten Monatsgehältern auf den Weg nach Palästina machten? Es war demgegenüber wahrhaftig keine Heldentat, am Prager Fahrkartenschalter ›einmal Berlin einfach‹ zu verlangen. Kafkas Sparkassenbuch verzeichnete fast 5000 Kronen, es hatte das Startkapital der Ehe sein sollen, allein aber war es durchaus möglich, mit einem solchen Betrag zwei Jahre zu überleben, wenn man, wie er von sich

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