Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
und in Sicherheit war.
    Auswanderung nach Amerika: In der Mehrzahl aller Fälle bedeutete dies einen Abschied für immer. Ferris Eltern waren jetzt Mitte sechzig, sie konnten nicht erwarten, ihren einzigen Sohn jemals wiederzusehen. Briefe waren wochenlang unterwegs, eine Entfremdung auch von den Geschwistern unvermeidlich, an Besuche war wegen des Aufwands an Zeit und Geld nicht zu denken. Tatsächlich sollten dreizehn Jahre vergehen, ehe die überlebenden Familienmitglieder sich wiedersahen. Ferri, mittlerweile aufgerückt zum Ehemann, Vater und selbständigen Geschäftsmann ›Fred E. Bauer‹, wurde 1927 in Berlin von einer Greisin in die Arme geschlossen, die einmal seine Mutter war.
    Wären Kafkas umsichtige Eltern auf die Idee verfallen, eine zweite, aktuellere Auskunft über die prospektiven Verwandten einzuholen, es hätte sie wohl eine böse Überraschung erwartet. Zwar ist nicht überliefert, ob Carl Bauer tatsächlich – wie Kafka später vermutete – sich {453} hatte verpflichten müssen, den von seinem Sohn angerichteten Schaden aus eigener Tasche zu begleichen, um ein Gerichtsverfahren abzuwenden. Sicher aber ist, dass Felices Ersparnisse verloren waren und sie als Mitgift nichts in eine Ehe einzubringen hatte. Teuer erkauft war der Friede in dieser Familie. Schon die monatliche Überweisung, welche die Bauers von ihrer berufstätigen Tochter Erna erwarteten, war wohl über Monate von Felices Konto bestritten worden – wie anders hätte man Ernas Schwangerschaft geheim halten sollen? –, und so war es kein Wunder, dass sich Felice trotz ihres vergleichsweise hohen Einkommens noch immer genötigt sah, stundenweise bezahlte Schreibaufträge zu erledigen, nach Feierabend und sicherlich in mancher Nacht.
    Kafka beobachtete gut: »F. sieht sehr wechselnd aus, an der Luft meist sehr frisch, im Zimmer manchmal müde, gealtert, mit fleckiger rauher Haut.« [429]   Was ihm entging, war die verzweifelte soziale Scham, die Felice würgte und am Sprechen hinderte. Es wird schon wieder – das war die fatale Maxime ihrer Lebenskunst gewesen, die Maxime einer chronischen Verdrängung, mit der sie jetzt unwiderruflich gescheitert war. Hatte nicht Franz, der Träumer, mit seinem beständigen Drängen auf Offenheit sich als der Realistischere, ja Lebenstüchtigere erwiesen? Verstrickte sie sich nicht immer tiefer in Unwahrhaftigkeit? Wäre es nicht vernünftiger und auch gerechter gewesen, anstatt ihn bloß zweimal zu bitten, Weihnachten auf keinen Fall nach Berlin zu kommen, ihm einfach zu sagen, dass hier eine aufgelöste, mit sich selbst beschäftigte Familie saß, die jetzt alles andere eher ertrug als fremde Zeugen ihres Schicksals? Sich mehr nach dem Gegebenen zu richten: Das war es, was sie beständig von ihm verlangt hatte. Doch dies Gegebene ihm rechtzeitig mitzuteilen, hatte sie leider versäumt, und entsetzlich war der Gedanke, es jetzt nachholen zu müssen. Gab es denn dafür Worte? Hätte sie jetzt nicht alles preisgeben müssen, was ihr lieb und teuer war? ›Meine Eltern lebten jahrelang getrennt, meine Schwester hat ein uneheliches Kind, mein Bruder ist ein Betrüger, und ich selbst besitze nichts mehr‹ … nein, nein, das nicht.

    Sie trafen sich im Tiergarten. [430]   Derselbe Ort, derselbe Fahrplan. Um 16 Uhr, wie stets, würde Kafka mit gepackter Tasche sein Hotel verlassen, um als treuer Beamter am Montagmorgen zur Stelle zu sein. Ein paar Stunden blieben noch. Jetzt musste die Entscheidung fallen. {454} Und niemals war er mehr entschlossen gewesen, die letzte, die allerletzte Chance zu ergreifen.
    Doch er wurde abgewiesen. Stockend, in halben Sätzen, den Kopf meist zur Seite gewandt, teilte Felice ihm mit, dass sie sich nicht überwinden könne. »Ich kann Dich ganz gut leiden, aber das langt nicht zur Ehe. Halbes aber tue ich nicht.« »Das andere ist aber doch auch nur ein halbes«, versetzte Kafka, dessen Geistesgegenwart den Schock noch um ein paar Sekunden überdauerte. »Ja«, antwortete sie, »aber es ist die größere Hälfte.« Und endlich gebe es da die Erinnerung an eine frühere Liebe, auch das hindere sie, vielleicht.
    Kafka ließ nicht locker. Sie hatte über ihre Gefühle schon anders zu ihm gesprochen. Er konnte zitieren, wusste alles auswendig. Doch davon wollte sie nun nichts mehr hören. »Es ist so. Du mußt es glauben. Halte Dich doch nicht an jedes Wort.« Er glaubte es nicht, drohte gar, ihren Vater aufzusuchen, um endlich zu erfahren, was denn geschehen sei, was

Weitere Kostenlose Bücher