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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Unfall-Abteilung und Besitzer einer Brauerei, veröffentlichte Lyrik in tschechischer Sprache, sein Assistent Krofta war literarisch nicht weniger ambitioniert. Der im Nebenzimmer arbeitende Alois Gütling, der Kafka jahrelang mit technischen und statistischen Berechnungen zuarbeitete, ein zarter, stets elegant gekleideter Wagnerianer, publizierte drei Gedichtbände, angeblich sogar auf Kafkas Rat und Vermittlung. Schließlich Direktor Marschner, der mit Kafka »Kopf an Kopf aus einem Buch Gedichte von Heine« las, »während im Vorzimmer Diener, Bureauchefs, Parteien, vielleicht mit den dringendsten Angelegenheiten, ungeduldig darauf warteten vorgelassen zu werden«. [7]   So anekdotisch es klingt: Derartige Vorfälle waren gewiss nicht selten. Denn Marschner, der auch eine Reihe sozialpolitischer Schriften verfasste, war kein Freizeitleser, sondern stellte zu Goethe, Stifter und Nietzsche eigene Forschungen an, für die er später sogar den Karlsbader Goethe-Preis erhielt. Kein Wunder, dass Kafka von der Klugheit seines obersten Vorgesetzten stets mit Begeisterung erzählte, während wiederum Marschner das ewige Zuspätkommen seines belesenen, sprachgewandten und als Lektor äußerst hilfreichen Juristen absichtsvoll übersah.
    Freilich war es zweierlei, literarische Interessen zu pflegen oder, wie Kafka dies in seinem Brief an Pfohl riskierte, das Schreiben zu einer Hauptsache, einer Bestimmung zu erklären, die sich nur um den Preis {19} des Irrsinns unterdrücken ließ. Auch der gebildete Marschner, der ja selbst eine Art von »Doppelleben« führte, hätte für einen derart radikalen Anspruch wohl kaum Verständnis aufgebracht. Überschätzte sich Kafka nicht? ›Dichten‹ war eine Tätigkeit, an der sich im deutschsprachigen Bürgertum Prags jeder zweite Jüngling irgendwann versucht hatte, und die wenigen Seiten, die Kafka bislang in Zeitschriften veröffentlicht hatte, ließen zwar Begabung erkennen, doch keinesfalls die Sonderstellung, die er für sich selbst zu reklamieren schien. Pfohl und Marschner wären entsetzt gewesen, hätten sie zu Gesicht bekommen, was Kafka unmittelbar nach seinem Entschuldigungsbrief im Tagebuch notierte: »zweifellos«, hieß es da, »bin ich jetzt im Geistigen der Mittelpunkt von Prag«. Das war unendlich weit entfernt von jeder sichtbaren Realität, es war Wahnsinn – auch wenn Kafka diesen Satz mit dichtester Schraffur sogleich unlesbar machte.
    Solche Augenblicke des freien Flügelschlags waren indessen selten, und Kafkas Platz war niemals der Mittelpunkt – wovon auch immer. Er wusste sich nicht zu fassen, nicht zu verorten. Vor allem fehlte gerade dort, wo die Menschen ihm am nächsten an den Leib rückten, jede Möglichkeit der Aussprache und damit auch jede Ermutigung, Differenzierung und Korrektur, von sachhaltiger Kritik ganz zu schweigen. Mit Missbehagen beobachteten Kafkas Eltern, dass ihr einziger Sohn, der seinem dreißigsten Lebensjahr entgegensah, den Zeitvertreib seiner Jugend noch immer nicht aufgeben wollte. Stapel von Schulheften schrieb er voll, ein erwachsener Mensch, und opferte dafür den Nachtschlaf. Machte man ihm Vorhaltungen wegen der Unvernunft dieser Lebensweise, so konnte er entgegnen, dass er doch wohl gesünder lebe als alle anderen: Er ging spazieren, schwimmen, wandern, er rauchte nicht, trank nicht, verzichtete auf Tee, Kaffee und tierisches Fett. Aber er übertrieb eben auch die Gesundheit, wie alles. Kam er am frühen Abend von einem Spaziergang zurück, so erfuhr die staunende Familie, dass er mit seinem Eilschritt bis weit hinaus in Dörfer gelangt war, wohin andere nur mit dem Zug fuhren. Machte er einen Sonntagsausflug mit Freunden, so saß er anschließend sonnenverbrannt am Tisch wie ein Urlauber. In den heißen Sommermonaten ging er Tag für Tag in die ›Civilschwimmschule‹ – das wenige Minuten entfernte Bad an der Moldau –, oder er fuhr mit dem eigenen Ruderboot, ließ sich kilometerweit treiben, um sich dann mühsam wieder flussaufwärts zu arbeiten. Zu schweigen von den absonderlichen {20} Turnübungen, die er auch bei frostiger Kälte am offenen Fenster absolvierte, beinahe nackt und selbstverständlich nach Anleitung durch einen international anerkannten Turnlehrer, dessen Broschüre MEIN SYSTEM stets aufgeschlagen daneben lag: »Müllern« nannte man das. Er solle nur aufpassen, raunzte Kafkas Vater, dass er nicht zu einem zweiten Onkel Rudolf werde.
    Das war eine gewichtige und durchaus bedenkenswerte Drohung. Denn

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