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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Druckfehlern und sprachlichen Scharten, denn einen Korrekturbogen bekam Kafka nicht zu sehen. Und so begann die Erzählung ihre beispiellose Karriere ohne Elan, nach einer Serie von Fehlstarts und in beschädigter Gestalt: ein neuerlicher Beleg für jenes »Grundgesetz« seines Lebens, das Kafka gegenüber Grete Bloch einmal so definierte: {466}
»Ich erreichte nämlich bisher alles, was ich wollte, aber nicht gleich, niemals ohne Umwege, ja meistens auf dem Rückweg, immer in der letzten Anstrengung und, soweit sich das beurteilen liess, fast im letzten Augenblick. Nicht zu spät, aber fast zu spät, es war schon immer das letzte Hämmern des Herzens. Und ich habe auch niemals das Ganze dessen erreicht, was ich wollte, es war auch meistens nicht mehr alles vorhanden, ich hätte, selbst wenn es da gewesen wäre, auch nicht alles bewältigen können, aber immerhin bekam ich immer ein grosses Stück und meistens das Wichtigste.« [440]  
    Alles schien sich zu wiederholen. Jede Wiederholung aber deutet auf ein Gesetz, und wie niemals zuvor war Kafka jetzt erpicht darauf, solche Gesetze zu finden und zu formulieren. »Es gibt eben keine Wage, bei der beide Schalen gleichzeitig hinaufgehn«, so lautet eines davon. [441]   Ein schönes und treffendes Bild. Ein Wunder wäre es, hätte Kafka dabei nicht an Justitia gedacht. Doch er hatte sich in eine Situation manövriert, aus der nichts ihm heraushelfen konnte als ebendiese Märchenwaage.
    Er hatte die Entscheidung über seine Existenz nach Berlin delegiert. Genauer gesagt: beide Entscheidungen. Das Urteil darüber, ob er tauglich zur Ehe war, ob er das Vertrauen, das man ihm entgegengebracht, nicht längst sträflich verspielt hatte, wurde in Berlin-Charlottenburg, Wilmersdorfer Straße 73, gesprochen. Würde dieses Urteil negativ ausfallen – und danach sah jetzt alles aus –, dann, so sein fester Entschluss, würde er allein bleiben und fortan der Literatur leben.
    Das Zivilgericht aber tagte woanders: im Büro Musils, am Stammtisch Franz Bleis im Café des Westens und vielleicht noch an weiteren zwei, drei Knotenpunkten des literarischen Betriebs. Hier – so glaubte Kafka – würde sich entscheiden, was nach einer Verurteilung in erster Instanz mit den verbliebenen Trümmern seines Lebens, mit der Konkursmasse geschehen sollte. War sie wertvoll genug, um ein anderes, besseres, glücklicheres Unternehmen zu begründen? Und war es zu verantworten, einen, der schon am Alltäglichsten versagte, ins Dickicht der Literatur zu schicken?
    Es ist nicht zuletzt diese räumliche und zeitliche Zusammenballung der Entscheidungen, die Kafka auf eine Lösung immer ungeduldiger drängen ließ. Schon der Überraschungscoup an Felices Arbeitsplatz, der mit der tiefsten Demütigung im Berliner Tiergarten endete, stand in verborgenem, doch unzweifelhaftem Zusammenhang mit dem {467} Blankoscheck, den Kafka nur vier Tage zuvor von Musil erhalten hatte. Denkbar (wenngleich nicht nachweisbar) ist sogar, dass Kafka Musil aufsuchte – an genau jenem Wochenende, von dem er sich die Entscheidung über die Ehe erhoffte. Es war die Eigendynamik eines »Jetzt oder nie!«, die sich aus Musils freundlichem Angebot speiste und die nun Kafka mit Schwung über jenen absoluten Nullpunkt hinaustrug. Ihm war elend zumute; etwas Schlimmeres als die Szenen im Tiergarten war ihm noch niemals widerfahren. Doch er blieb beweglich, blieb fähig zu handeln. Alles, was er Felice in bewusstloser Not versprochen hatte, widerrief er. Und zum ersten Mal wagte er es, Bedingungen zu stellen.
    Beinahe scheint es, als seien die Rollen jetzt vertauscht. Kafka weiß, was er will: Es ist der Augenblick, da seine Bestimmung sich erweisen soll. Felice Bauer hingegen schwankt, folgt Stimmungen, die sie nicht mehr zu beherrschen vermag. Sie weckt neue Hoffnungen – nicht zufällig wohl am selben Tag, da ihr Bruder Deutschland verlässt – und verfällt wieder in Schweigen. Vom Tiergarten will sie nichts mehr hören, und doch zitiert sie Kafkas jämmerlichste Sätze. Ein Treffen in Dresden, auf neutralem Boden, lehnt sie ab. Sie gesteht, noch immer »nicht alles« gesagt zu haben, doch Kafkas flehende Bitte, doch endlich offen zu sprechen, beantwortet sie nicht.
    » … es muss ein Ende haben, gut oder schlecht«, schreibt Kafka am 19.März an Grete Bloch. Er erhöht den Druck, weit hinaus über das Maß dessen, was mit den Konventionen der Höflichkeit, der sozialen Etikette, ja selbst mit den diskursiven Regeln

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