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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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soweit es Dir möglich ist, Dir über Dich klar zu werden. Wir dürfen einander doch nicht zerschlagen, wenn wir endlich zusammenkommen; es wäre doch schade um uns.« [447]  
    Das klingt einleuchtend und wahrhaftig. Dennoch wirkt die Geschäftigkeit, die Kafka nach so vielen Monaten des Zögerns entfaltet, eher forciert als begeistert. Was Felice als Unnachgiebigkeit wahrnimmt, ist die zitternde Anstrengung der guten Vorsätze, der Selbstüberredung. Für andere ist es das Selbstverständliche, der endgültige Beitritt in die Gesellschaft; für ihn ist es die Vorbereitung einer Expedition. Es ist, als verlade er all sein Hab und Gut auf Schienen, um sicherzustellen, dass es kein Abirren mehr geben wird von der Richtung, die er als notwendig und richtig jetzt erkannt und beschlossen hat. Er löst die Bremsen. Jene Schienen aber sind abschüssig.
    Es ist wiederum Kafkas Briefen an Grete Bloch zu verdanken, dass die äußeren Ereignisse zumindest in ihren Umrissen erkennbar bleiben. Insgesamt werden die Lebenszeugnisse jetzt spärlicher, und vieles, was er zuvor in langen Briefträumen und noch viel längeren erträumten Briefen genießerisch entfalten durfte, wird jetzt, da es an die Verwirklichung geht, mündlich verhandelt – mit den Eltern bei der abendlichen Mahlzeit, mit Felice am Telefon. Die Einzelheiten lassen sich hier und da erraten, doch schon aus den wenigen, zweifelsfreien Fakten wird deutlich, dass es Kafka keineswegs vergönnt war, seinem eigenen Drehbuch zu folgen. Das Eheprogramm war vorgegeben, eine Checkliste, die Punkt für Punkt abzuarbeiten war. Und keiner davon blieb Kafka erspart, keinen gab es, der nicht Probleme aufwarf.
    Es begann mit der Suche nach einer Wohnung. Kafka war Mitglied einer Baugenossenschaft, doch erwähnt hatte er sie schon seit langem nicht mehr: Das Haus, in das einzuziehen er Anspruch hatte, existierte {473} wohl noch gar nicht. Er durchflog die Inserate der Prager Tagespresse, begab sich auf eine lange Tournee von Besichtigungen. Das Zentrum, die Umgebung des Altstädter Rings mied er zunächst – nicht nur, weil er zwischen sich und die Familie eine Sicherheitszone legen wollte, sondern vor allem, weil ihn nach Ruhe, Sonne und frischer Luft verlangte, nach Zimmern mit freiem Ausblick, wie sie nur in den Außenbezirken Prags zu haben waren. Ja, Kafka träumte sogar von einem kleinen Haus mit Garten, draußen vor der Stadt. [448]   Dort aber wurde ausschließlich Tschechisch gesprochen: Konnte er Felice wirklich zumuten, ihr neues Leben in zweifacher Fremde zu beginnen, in der k. k. Provinz, zwischen Menschen, die ihr jeden Gruß vorbuchstabieren mussten? Er dachte an Felices Schwester Else, die in Budapest unglücklich genug war.
    Kafka lief treppauf, treppab. Er fürchtete sich ein wenig vor Felices Ansprüchen, noch mehr aber fürchtete er sich vor schlagenden Türen, schreienden Kindern und den hinter allen Wänden lauernden Klavierschülern. Lieber zu teuer als zu laut. Doch es dauerte einen vollen Monat, ehe er endlich einen erträglichen Kompromiss fand: »3 Zimmer, Morgensonne, mitten in der Stadt, Gas, elektr. Licht, Dienstmädchenzimmer, Badezimmer, 1300 K. Das sind die Vorteile. Die Nachteile sind: 4. Stock, kein Aufzug, Aussicht in eine öde, ziemlich lärmende Gasse.« [449]   Nicht zu vergessen: Kein Grashalm vor der Tür und keine fünf Minuten von den Eltern entfernt. Doch in der Altstadt, auf deutschem Territorium, wie Felice es sich gewünscht hatte. Im nächsten Sommer würde man weitersehen. Ein Provisorium.
    Beinahe zwei Jahre war es mittlerweile her: jener einzige, denkwürdige Besuch Felice Bauers in Prag. Es hatte etwas Märchenhaftes, Zauberisches, dass sie als die Braut jenes Menschen zurückkehrte, an den sie sich damals erst nach Vorlage von Fotos wieder recht hatte erinnern können. Und nun hatten sie schon eine gemeinsame Geschichte, kein Vorspiel, sondern eine Vor-Ehe gleichsam, in der vom Glück der ersten Näherung bis zum Leid der tiefsten Entfremdung schon alles zusammengedrängt schien, was sich aus einer Ehe nur schöpfen lässt. Und als sie, am Arm ihrer Mutter, auf dem Bahnsteig des Prager Franz-Josef-Bahnhofs zum ersten Mal den Kafkas entgegenschritt, da muss es die gleiche Furcht vor dem großen Dacapo gewesen sein, die hinter allen lächelnden Gesichtern zuckte. Nur nicht zurückblicken jetzt. Schluss machen, Hochzeit feiern.
    »Meine Verwandten haben sie fast lieber als mir lieb ist«, beschwerte sich bald darauf Kafka.

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