Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Lebensbahnen der beiden Autoren, die man Jahrzehnte später als die Leitsterne der deutschsprachigen Moderne identifizieren wird, nur deshalb kreuzten, weil sie zur selben Zeit, ja fast im selben Augenblick dasselbe existenzielle Problem bearbeiteten, zählt eher zu den tragikomischen Episoden der jüngeren Literaturgeschichte. Eine Sternstunde wurde nicht daraus.
Der um drei Jahre Ältere war der Energischere. Es berührt eigentümlich, zu beobachten, wie Musil scheinbar ohne Skrupel in die Tat umsetzt, was Kafka durch Tagträume und nicht enden wollende Denkspiralen wälzt: Anfang August 1913 legte er der Technischen Universität Wien ein ärztliches Attest vor und ließ sich für ein halbes Jahr beurlauben. »Neurasthenie«, »Anfälle von Herzklopfen«, »Verdauungsstörungen«, »Schlaflosigkeit«, »Depression« – es war also durchaus möglich, mit Symptomen, die Kafka ebenso leicht hätte beibringen können, sich ein halbes Jahr Ruhe zu verschaffen. (Zwei Jahre später lag Musil unter Schrapnellfeuer, ohne dass sich sein Herz spürbar beunruhigt hätte.) [436] Einen gescheiterten Versuch, in Deutschland sich literarisch einzuwurzeln, hatte er bereits hinter sich; die Heirat mit Martha Marcovaldi im Frühjahr 1911 hatte ihn schließlich daran gehindert, noch länger hier auszuharren. Diesmal aber war Musil entschlossen, alles, was er zu bieten hatte, in eine Waagschale zu werfen: seine beiden Bücher, das künftige Werk, seine Arbeitskraft.
Der erste Weg war vorgezeichnet, er führte nach Leipzig, zu Kurt Wolff. Im Gepäck hatte Musil seine VERWIRRUNGEN DES ZÖGLINGS TÖRLESS und den Novellenband VEREINIGUNGEN: Das waren die Morgengaben, mit denen er hoffte, den Verleger zu einem monatlichen Fixum zu bewegen. Doch die Unterredungen blieben ohne Ergebnis, trotz heftiger Fürsprache Werfels – nicht schwer, sich vorzustellen, {463} dass Wolff dem fordernden, unter Zeitdruck stehenden Musil mit Reserve gegenübertrat.
Dann also nach Berlin, zum großen Konkurrenten Samuel Fischer. Hier standen die Chancen, wie sich sofort zeigte, weit besser. Denn Musils taktisch geschickter Vorschlag, nicht nur als Autor einzutreten, sondern als Lektor oder Redakteur weitere jüngere Autoren zu rekrutieren, kam eben zur rechten Zeit, um gewissen sklerotischen Symptomen des renommiertesten belletristischen Verlags Einhalt zu gebieten. Vor allem das biedere Erscheinungsbild der Neuen Rundschau machte augenfällig, warum zahlreiche Exponenten einer jungen, kämpferisch-expressiven Literatur es vorzogen, in einschlägigen Szeneblättern zu publizieren anstatt in der ›führenden‹ Zeitschrift. Allzu viele Rücksichten mussten hier genommen werden auf die Riege der Stammautoren und deren bürgerliche Leserschaft, und es wurden sogar Befürchtungen laut, in der Neuen Rundschau etabliere sich schleichend ein Einheitsstil, der jeden, der sich darauf einlasse, künstlerisch ruiniere. Samuel Fischer kannte diese Stimmen; doch er hatte keinerlei Neigung zum Experiment und dachte gar nicht daran, die Neue Rundschau expressionistisch zu kostümieren, nur um dem ›Jüngsten Tag‹ und den Weißen Blättern Paroli zu bieten.
Musil schlug einen anderen Weg vor. Man müsse den Jüngeren eine eigene Spielwiese schaffen, eine Art Probebühne, über der zwar nach wie vor das Verlagssignet ›S. Fischer‹ prangte, die jedoch vom etablierten Programm so deutlich abgegrenzt war, dass kein Kritiker auf die Idee verfallen konnte, hier würden bewährte literarische Maßstäbe in Frage gestellt. Eine zweite Zeitschrift also, oder besser noch ein Beiblatt zur Neuen Rundschau , das separat abonniert und gekündigt werden konnte. Das leuchtete Fischer ein, und noch bevor über den endgültigen Charakter des neuen Forums entschieden war, unterzeichnete er einen Vertrag, der Musil ab dem 1.Februar 1914 zum Angestellten des S. Fischer Verlags machte – zwecks »Heranziehung der jungen Schriftsteller-Generation«. [437]
Eigenartigerweise sind nur sehr wenige Dokumente überliefert, die sich auf Musils Verlagstätigkeit beziehen, doch sicher ist, dass er sich sehr energisch an die Arbeit machte und vom ersten Tag an eine beinahe hektische Aktivität entfaltete. Er war nun selbst zum ›Multiplikator‹ aufgerückt und entschlossen, ohne jeden Seitenblick auf die Hausgötter Thomas Mann, Gerhart Hauptmann und Walther Rathenau {464} seinen eigenen ästhetischen und intellektuellen Kriterien zu folgen. Dass es zu den allerersten Amtshandlungen
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