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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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bürgerlicher Intimität noch irgend zu vereinbaren ist. Kafkas Mutter schreibt an Felice. Er selbst schreibt an ihre Eltern. Er schickt Telegramme. Beinahe im Stundentakt fliegen jetzt die Botschaften zwischen Prag und Berlin, sie überkreuzen sich, verstärken und dementieren einander. Er droht damit, in den Zug zu steigen. Alles ist ihm recht, was die Entscheidung zu erzwingen vermag.
    Endlich, am Samstag, dem 21.März, spielt Kafka die letzten Trümpfe aus. Er will keine halbherzigen Geschenke, keine abgenötigten Briefe mehr, er will Klarheit. Er lädt ihr das volle Gewicht der Verantwortung auf, erklärt, was von ihrer Entscheidung abhängen wird. Und er droht mit dem Ende.
»Sag mir doch Felice: warum zwingst Du Dich, warum willst Du Dich zwingen? Was hat sich seit dem Spaziergang im Tiergarten verändert? Nichts, Du sagst es ja. Was hat sich aber bei Dir seit unsern guten Tagen verändert? Alles, Du sagst es auch. Warum also willst Du Dich opfern, warum? Frage nicht immer, ob ich Dich will! Diese Fragen zu lesen, macht mich zum Sterben traurig. Solche Fragen stehn in Deinem Brief, aber kein Wort, kein Wörtchen von Dir, kein Wort darüber was Du für Dich erwartest, kein Wort darüber, was die Heirat für Dich bedeuten würde. Alles stimmt zusammen, für Dich ist es ein Opfer, darüber ist dann nichts mehr zu sagen. […]
Du fragst nach meinen Plänen, ich weiss nicht genau, was Du damit meinst, aber ich glaube, ich kann Dir sie jetzt offen sagen. Als ich von Riva zurückkam, war ich aus verschiedenen Gründen entschlossen zu kündigen. Ich sah es schon seit einem Jahre und seit länger ein, dass mein Posten nur dann einen Sinn, nur dann einen guten Sinn für mich hätte, wenn ich Dich heirate (jemand anderer kommt, seitdem ich Dich kenne, für mich nicht in Betracht, wird auch nicht in Betracht kommen). Dann bekäme mein Posten einen guten Sinn, würde fast liebenswert werden. […] Heirate ich Dich nicht, dann ist mein Posten, so leicht er mir sonst (von Ausnahmszeiten abgesehen) fällt, eine Widerlichkeit, denn ich verdiene mehr, als ich brauche, und das ist sinnlos. […]
Nun, Felice? Mir ist fast so, als stünde ich auf dem Perron des Anhalter Bahnhofes, Du wärest ausnahmsweise gekommen, ich hätte Dein Gesicht vor mir und sollte mich für immer von Dir verabschieden. – Für Montag erwarte ich noch einen Expressbrief, ein Wunder; was weiss ich denn, was ich erwarte. Von Dienstag ab erwarte ich nichts mehr.« [442]  
    Ein Ultimatum. Will Felice Bauer ihm Folge leisten, muss sie sofort reagieren. Kafka weiß, eine Steigerung ist jetzt nicht mehr möglich, der maximale Druck ist erreicht, er muss die Entscheidung bringen. Um sich selbst den Rückzug abzuschneiden, formuliert er eine Bewerbung, die ihm eine (wohl von Musil vermittelte) unbedeutende Anstellung in Berlin einbringen soll. Er behält diesen Brief in der Tasche, wie eine Waffe.
    Keine Antwort am Montagvormittag. Mechanisch tut Kafka seinen Dienst; niemand im Büro ahnt, dass er auf das Signal zur Kündigung wartet. Kein Brief auch am Montagnachmittag, »ich fühlte mich schon als ein Freigelassener im guten und im schlechten Sinn« [443]   . Um 17 Uhr, endlich, ein Telegramm Felices, das einen Brief für Dienstag ankündigt.
    Dienstag, dasselbe Spiel. Kafka wartet vergeblich auf die Entscheidung. Kein Brief, weder im Büro noch zu Hause. Er könnte jetzt die {469} Bewerbung absenden, doch er zögert. Am Mittwoch, endlich, das Urteil . Sie sei unselbständig, schreibt Felice, sie brauche einen Mann, auf den sie sich verlassen könne. In Berlin werde er alles erfahren, was er zu wissen wünsche. Ob er sie aber noch so nehmen könne, als sei nichts gewesen? Dann, ja … sollten sie es noch einmal miteinander versuchen.

{470} Eheprogramm und Askese
Keep going, going on, call that going, call that on
Samuel Beckett, HOW IT IS
    »Darf ein Grenzwächter verheiratet sein? Ein Grenzwächter, ein äußerster Vorposten, der, ob auch nicht mit Tartaren und Skythen, so doch Tag und Nacht zu kämpfen hat mit den Anfällen einer angeborenen Schwermut; der, ob er auch nicht Tag und Nacht fortkämpft, sondern interimistisch auch eine längere Zeit des Friedens genießt, doch nie weiß, in welchem Augenblick der Kampf wieder nötig wird, so dass er diese Ruhe nicht einmal einen Waffenstillstand heißen darf? Ein Grenzwächter im Dienste des Geistes, darf der sich verheiraten?«
    »Grillparzer hat niemals seine ewige Braut besessen, Kierkegaard trennt sich

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