Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
von seiner unendlich geliebten Regina, um ihr ein Leben lang treu zu bleiben. Claudel wird Katholik. Ist es ihr Wille, ist es höhere Bestimmung? Aber man muß vielleicht auf dieses irdische Leben irgendwie verzichten, wenn man unsterblich werden will.«
Das erste Zitat stammt aus Kierkegaards STADIEN, das zweite aus einem im Brenner abgedruckten Essay von Willy Haas [444] : ein Heft, das Haas mit handschriftlicher Widmung an Kafka überreichte. Doch der glaubte nicht an das abgenutzte, von jeher unwahre Leitbild des Genies, das um der Unsterblichkeit willen auf das Leben verzichtet. Leben will jeder und jede. Manche allerdings kommen nicht dazu, sie sind abgelenkt, haben zu viel zu tun, innen .
Zu diesen gehörte zweifellos Kierkegaard, der, früh gebeugt unter dem pietistischen Terror des Vaters, ausgelaugt von Depressionen, sich als Siebenundzwanzigjähriger spontan zur Verlobung mit einem ganz unreifen, zehn Jahre jüngeren Mädchen entschloss. Doch die psychischen Dämme, die diesen Willensakt ermöglicht hatten, hielten nur wenige Tage, danach behielten Skrupel, Reflexionszwang und Sexualangst dauernd die Oberhand. Ein volles Jahr lang quälte sich Kierkegaard {471} mit der Entscheidung, dann riss er sich los, entschied sich, die leibhaftige Regine Olsen durch ein Traumbild gleichen Namens zu ersetzen.
»Wie ich es ahnte«, schrieb Kafka, nachdem er den ersten Blick in Kierkegaards Tagebücher getan hatte, »ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie ein Freund.« [445] Der Eindruck muss heftig gewesen sein, ein moralischer Axthieb, denn noch am selben Tag schrieb Kafka an Carl Bauer, um ihm noch einmal so deutlich wie möglich vor Augen zu stellen, auf wen seine Tochter sich einlasse.
Zu seinen »Blutsverwandten« hat Kafka den Dänen freilich nicht gezählt. Die moralische Eitelkeit, der Stolz Kierkegaards, sich unter schweren Opfern für ein sozial ungebundenes »Geistesleben« entschieden zu haben, die beständigen halben Enthüllungen, in deren Schatten die einstige Verlobte fortan leben musste, schließlich die bewusst herbeigeführte Isolation Kierkegaards, der einmal gar notierte, es sei ihm in seinem ganzen Leben noch nicht eingefallen, sich jemandem völlig anzuvertrauen – all dies musste Kafka erst einmal in die eigene Sprache übersetzen, um zu verstehen, dass es Optionen waren, denen er selbst noch keineswegs entronnen war. Während die einfachen Worte Flauberts, den beim Anblick einer Frau inmitten ihrer Kinderschar Trauer und Neid ergriffen, in Kafka lebenslang widerhallten: »Ils sont dans le vrai.« Die haben das Rechte getroffen.
Das Rechte. Nicht vom Ersehnten, sondern vom Rechten, Wahren, Notwendigen sprach nun Kafka auffallend häufig. Und das tat er wahrscheinlich auch an Ostern 1914 in Berlin, als es nach einer weiteren Aussprache mit Felice und ihren Eltern endlich zu einem handfesten Beschluss kam: sofortige Verlobung, Kündigung bei der Lindström A. G., Heirat im September, Übersiedelung Felices nach Prag. »Ich habe«, schrieb er ihr tags darauf, »gewiss niemals bei irgendeiner Handlung mit solcher Bestimmtheit das Gefühl gehabt, etwas Gutes und unbedingt Notwendiges getan zu haben, wie bei unserer Verlobung und nachher und jetzt. In dieser Zweifellosigkeit gewiss nicht.« [446] Er war sogar bereit, davon abzusehen, dass die kleine Feier vorüberging, ohne dass Felice ihm auch nur einen Augenblick der Intimität gegönnt hätte. Er litt darunter, aber es war nicht das Wichtigste. Schlimmer waren die nicht zu beruhigenden Zweifel daran, ob auch sie diese Zugehörigkeit empfand, dieselbe Emphase einer mit hellem {472} Bewusstsein getroffenen Wahl . Immer aufs Neue danach zu fragen, zu bohren, das konnte er sich dann doch nicht versagen, und die neu gewonnene Entschlusskraft, mit der jetzt Kafka, um der Ehe willen, all seine Auswanderungs- und Kündigungspläne über den Haufen warf, bekam Felice zu spüren als den Kälteschauer der Notwendigkeit, ja der Pflicht . Sie beklagte sich darüber, doch vergeblich.
»Sag nicht dass ich zu streng mit Dir umgehe; was zur Liebe in mir fähig ist, es dient nur Dir. Aber sieh, mehr als 1½ Jahre laufen wir einander entgegen und schienen doch schon nach dem ersten Monat fast Brust an Brust zu sein. Und jetzt nach so langer Zeit, so langem Laufen sind wir noch immer so weit auseinander. Du hast F. die unbedingte Pflicht,
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