Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
schließlich. »Unlesbares Ende. Unvollkommen fast bis in den Grund.« [435] Ein Fehlurteil, das indessen ohne Folgen blieb. Kafka wollte nach Berlin. Und darum gab er DIE VERWANDLUNG nun endlich aus der Hand.
Ein glückliches Zusammentreffen war es, dass gerade jetzt, im Winter 1913/14, der Kurt Wolff Verlag eines seiner drängendsten Probleme zu beheben vermochte: das Fehlen eines eigenen literarischen Periodikums. Welche Schubkraft eine geschickt gesteuerte ›Hauszeitschrift‹ dem belletristischen Verlagsprogramm vermittelt, hatte ja Samuel Fischer mit der Neuen Rundschau hinlänglich demonstriert, und Wolff wie auch Rowohlt waren sich völlig im Klaren darüber, dass sie diesen Vorsprung des etablierten Konkurrenten in irgendeiner Form würden aufholen müssen. Denn was von Seiten der Autoren sich als mehr oder minder seriöser Ort des kulturellen Diskurses darstellt, ist wirtschaftlich gesehen eine Werbefläche, eine (im Verkaufsjargon gesprochen) permanente ›Aktion‹, die mittels literarischer Kostproben Buchleser anlockt und bei der Stange hält. Nicht zu vergessen, dass eine eigene Zeitschrift die Möglichkeit eröffnet, subtil die Netze auszuwerfen und Autoren anderer Verlage auf unverfängliche Weise anzusprechen – ein Instrument, das Wolff sehr vermisste, denn freches Abwerben war seine Sache nicht. Doch alle Versuche, dem Verlag ein {461} eigenes Sprachrohr zu verschaffen, waren bislang gescheitert, und die von dem ewigen Projektemacher Franz Blei redigierte Zeitschrift Der lose Vogel , die Wolff mit gewissen Hoffnungen übernommen hatte, war ebenfalls nicht zu retten.
Indessen sollte sich die Verbindung mit Blei, der jetzt in Berlin residierte, auf andere Weise auszahlen. Denn er brachte Wolff mit einem literarisch und verlegerisch ebenso ehrgeizigen wie ahnungslosen, erst 22-jährigen Mäzen zusammen, der immens reich war und dennoch seine hochfliegenden Pläne nicht aus eigener Kraft zu fördern verstand: Erik-Ernst Schwabach, Gründer des ›Verlags der Weißen Bücher‹. Auch Schwabach, der leicht zu entflammen und ebenso leicht zu verunsichern war, träumte von einer eigenen Zeitschrift, ohne jedoch über die notwendigen Instrumente des Vertriebs zu verfügen. Sehr bald vermochte Wolff ihn von den Vorzügen einer Kooperation zu überzeugen, und so erschien das neue, gemeinsam gegründete literarische Organ, das natürlich Die weißen Blätter heißen und von Franz Blei redigiert werden musste, ab September 1913 nominell in Schwabachs Verlag, tatsächlich aber unter dem organisatorischen Dach des Kurt Wolff Verlags. Schwabach wiederum rückte mit einer atemberaubenden Kapitaleinlage von 300 000 Mark heraus, nach heutigen Maßstäben ein Millionenvermögen, das vom Wolffschen Lektorat gebührend gefeiert wurde. »Der Schwabach muss es tragen« wurde zum geflügelten Wort, das fortan Flügel verlieh bei der Planung des Programms.
Für Kafka eröffnete der Auftritt des Mäzens und die Gründung der Weißen Blätter eine unerwartete Gelegenheit. Nun gab es einen Ort, wo DIE VERWANDLUNG sofort erscheinen konnte, ohne dass er wortbrüchig werden musste; denn da bald schon offenbar wurde, dass Kurt Wolff die Zeitschrift als das lang ersehnte Vorabdruckorgan des eigenen Verlages betrachtete, war es ohne Bedeutung, ob man ein Manuskript an den Redakteur Franz Blei oder an den Lektor Franz Werfel sandte – am Ende landete es doch im selben Büro. Max Brod, wohlinformiert wie stets, wird dem Freund mehr als einmal versichert haben, dass es nun wirklich kein moralisches Hemmnis mehr gab (und damit auch keine Ausrede), den Schatz ans Licht zu befördern. So kam es, dass Ende Januar 1914 eine saubere Abschrift der VERWANDLUNG auf dem Schreibtisch Franz Bleis erschien: siebenundsiebzig maschinengeschriebene Seiten.
Kafka war nicht der einzige Protegé Bleis, den es in die deutsche Hauptstadt zog. Auch Robert Musil, als dessen frühen Förderer sich Blei mit einigem Recht bezeichnen konnte, nahm Anlauf zum großen Sprung. Die Parallelen sind erstaunlich, wenngleich keineswegs zufällig: Kafka und Musil, zwei Beamte, der eine in einer Prager Versicherung, der andere in einer Wiener Hochschulbibliothek, beide mit psychosomatischen Beschwerden aller Art, beide gelangweilt, beide daran verzweifelnd, wie rasch und schmerzlos die Langeweile zum gewohnten Zustand wird. Und beide zogen denselben Schluss. Literatur als Brotberuf, das konnte nur heißen: hinaus aus Österreich. Freilich, dass sich die
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