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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Musils gehörte, Max Brod nach der Adresse Kafkas zu fragen, ist dafür der wohl erstaunlichste Beleg.
    Für Kafka war die freundliche, ja herzliche Anfrage Musils wie der Ruf aus einer sich unvermittelt öffnenden Himmelstür. »Betrachten Sie bitte«, las er staunend, »diese ›Zeitschrift‹ als Ihr persönliches Organ für alles, was Sie in Kunst oder damit zusammenhängenden Gebieten durchgesetzt wissen wollen. Vor allem sich selbst.« Das waren Sätze, für die mancher Autor alles gegeben hätte. Und Kafka war an diesem Punkt keineswegs empfindungslos: »Freut mich und macht mich traurig«, schrieb er, »denn ich habe nichts.« [438]   Er fühlte sich geschmeichelt, belebt, angestachelt. Worauf wartete er denn noch? Literatur oder Ehe, war das noch eine Frage? Felice rührte sich noch immer nicht, niemals schien diese Verbindung in größere, aussichtslosere Entfernung gerückt, und Kafka war jetzt so entschlossen, die Brücken hinter sich abzureißen, dass er am häuslichen Tisch das Wort ›Kündigung‹ aussprach – ohne Rücksicht darauf, dass diese Drohung hier wie eine Bombe wirkte und endlose, geflüsterte, wütend-verzweifelte Beratungen nach sich zog. Vermutlich hatte er auch schon erfahren, dass Franz Blei Vorbehalte gegen den Umfang der VERWANDLUNG hatte, und noch ehe Kafka recht wusste, was Musil eigentlich von ihm wollte, bot er rasch entschlossen auch ihm die Erzählung an. Ein Kraftakt, zu dem sich allerdings Kafka ohne den Rat seiner literarisch gewiefteren Freunde wohl kaum aufgerafft hätte. »Ich habe nichts«: Dabei konnte, durfte er jetzt nicht stehen bleiben, bei aller Loyalität gegenüber seinem Verleger.
    Tatsächlich war die Situation noch viel verwickelter und moralisch diffiziler, als Kafka wohl ahnte. Wolff und Fischer waren Konkurrenten. Franz Blei, Redakteur der Weißen Blätter , und Robert Musil, Redakteur der Neuen Rundschau , waren darum ebenfalls Konkurrenten. Aber Blei und Musil waren auch befreundet, seit Jahren schon. Und während Kafka noch über höfliche Ausreden nachdachte, mit denen er das Manuskript der VERWANDLUNG von Blei zurückverlangen konnte, um es an die offenbar weit aussichtsreichere Adresse Musils weiterzuleiten, ging Musil ohne große Umstände hinüber ins Café des Westens und holte sich das Bündel eigenhändig ab – wenige Stunden, nachdem er Kafkas Zusage erhalten hatte. Musil kannte {465} den HEIZER, und das genügte ihm. Er ahnte, mit wem er es zu tun hatte.
    Auch Kafka kann über den Schicksalsgenossen nicht gänzlich uninformiert gewesen sein. Anders ist es nicht zu deuten, dass er Musil bereits in einem zweiten Brief seine Absicht offenbarte, die Literatur zum Beruf zu machen und nach Berlin zu übersiedeln. Musil antwortete postwendend: »Trotz Ihres Bedürfnisses, über die geplante Sache noch zu schweigen, werde ich Ihnen in der nächsten Zeit ein paar Gedanken darüber mitteilen, die mich von der großen Verantwortung ein wenig entlasten sollen, die Ihre Liebenswürdigkeit mir zuschreibt.« [439]   Das klingt beinahe schon vertraulich und alles andere als taktisch vertröstend. Die angekündigten »Gedanken« sind leider nicht überliefert. Tatsächlich gibt es aber Anzeichen dafür, dass Musil nicht nur seiner Verantwortung als Ratgeber nachkam, sondern Kafka zu einer konkreten Option verhelfen konnte, möglicherweise als freier Mitarbeiter des Verlags. Mit dem Typoskript der VERWANDLUNG indessen ging Musil zum verantwortlichen Redakteur der Neuen Rundschau , um ihn zu überzeugen, dass dieser Text in den ›klassischen‹ Teil der Zeitschrift gehörte und nicht in einen Talentwettbewerb. Mehr konnte er nicht tun. Seine Enttäuschung darüber, dass Kafka außer einer sperrigen Erzählung nichts anbieten und auch nichts versprechen konnte, hat er ihn – nach allem, was wir wissen – nicht spüren lassen. Und dass der S. Fischer Verlag Monate später die Zusage der Veröffentlichung wieder relativierte, dass er eine massive Kürzung der VERWANDLUNG verlangte und schließlich, als Kafka sich entrüstet weigerte, die Publikation überhaupt scheitern ließ – für all dies konnte Musil nichts.
    DIE VERWANDLUNG erschien nicht in der Neuen Rundschau , sondern in den Weißen Blättern . Sie erschien nicht im Frühjahr 1914, als sie zum kostbaren Startkapital einer (mehr oder minder) freien literarischen Existenz hätte werden können, sondern im Herbst 1915, als der Krieg Kafkas Lebenshorizont längst geschlossen hatte. Sie erschien mit

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