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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Onkel Rudolf war der Narr der Familie, ein bescheidener, ängstlicher, dabei aber geschwätziger Mensch, der ein einsames Leben als Buchhalter und Junggeselle zubrachte, scheinbar ohne zu altern und ohne sichtbare Entwicklung, ein Hypochonder mit allerlei unenträtselbaren Spleens. Äußere Ähnlichkeiten gab es genug, das konnte Kafka nicht leugnen, und selbst seine Mutter, die gegen den Vergleich anfangs protestiert hatte, wurde allmählich stiller. Sie liebte ihren Sohn, und wenngleich sie den lebenstüchtigen Pragmatismus Hermanns durchaus teilte, suchte sie doch stets dessen grobe Attacken abzufedern und zu relativieren, ganz unabhängig von ihrem sachlichen Gehalt. Auch sie aber erkannte in Franz schon lange nicht mehr das eigene ›Blut‹, wie abwesend saß er am Tisch, scheinbar desinteressiert am Schicksal des Clans, heiter bisweilen, wenn er aus dem Kino kam oder eine auffallende Figur parodierte, die ihm begegnet war, dann wieder stumm und unzugänglich durch die Wohnung schleichend, der Schatten der Familie. Ja, bisweilen glaubte sie ihren Halbbruder Rudolf, den Sonderling, besser zu verstehen als den eigenen Sohn.
    »Ich lebe in meiner Familie«, resümierte Kafka wenig später, »unter den besten liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. […] Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn.« [8]   Nach allem, was wir wissen, war das keineswegs übertrieben; die ganze Wahrheit war es jedoch ebenso wenig. Denn Kafka war durchaus dazu fähig, die Bedürfnisse, Freuden und Begrenztheiten der anderen so intensiv sich vor Augen zu führen, ja zu durchfühlen, dass er an deren Leben nicht nur teilnahm, sondern es gleichsam innerlich simulierte. Während die Eltern stets gefangen blieben im eigenen Erfahrungs- und Empfindungshorizont und niemals auch nur ahnten, dass sich unmittelbar neben ihnen, verborgen {21} hinter einer unschuldigen Stirn, ein ›Weltinnenraum‹ von ungeheurer Ausdehnung öffnete.
    Dieses steile Gefälle vermochten auch die drei Schwestern nur geringfügig zu mindern. Ottla, die Jüngste, war die Einzige, die das Vertrauen des Bruders gewann, und sie wusste daher als Erste – und signalisierte es vermutlich auch den anderen –, wann es an der Zeit war, Franz in Ruhe zu lassen. Da sie den ganzen Tag im Geschäft verbrachte, konnte wiederum Kafka manches erfahren, was die Eltern unter der Decke hielten oder nur auf höchst parteiische Weise berichteten: Streitigkeiten mit den Angestellten, Misserfolge, Ärger mit den Behörden. Was von dem gewohnheitsmäßigen und ausdauernden Schimpfen des Vaters zu halten war, wusste die Familie ohnehin: Es richtete sich wahllos gegen Menschen, Unannehmlichkeiten, Zustände, doch wörtlich nehmen musste man nichts davon. Anders als ihr Bruder ließ es Ottla allerdings nicht damit bewenden, wegzuhören; sie war durchaus auch bereit, die Partei des niedersten Personals zu ergreifen, wenn die Ungerechtigkeit des Vaters offensiv und beleidigend wurde, und sie bekräftigte damit wiederum dessen Verdacht, im eigenen Geschäft von ›bezahlten Feinden‹ umgeben zu sein.
    Dass Ottla nicht immer die taktisch besten Augenblicke wählte, um ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, war offensichtlich und mangels weiblicher Vorbilder auch kaum zu vermeiden: Sie ›trotzte‹, war empfindlich und zeigte die Labilität des Teenagers – ein Mädchen, das seinen neunzehn Jahren keineswegs voraus war. Und was die Aussicht auf eine künftige Ehe betraf, die den Knoten vielleicht mit einem Hieb lösen würde, so war und blieb sie die Letzte in einer von den Eltern rigoros überwachten Warteschlange. »Du bist noch ein Kind«, schrieb ihr die Mutter, als ein vorzeitiger Bewerber auftauchte. »Erst werden Deine zwei Schwestern an die Reihe kommen, Du hast noch viel Zeit dazu. Schreibe ihm, dass Dich Deine Eltern noch lange nicht heiraten lassen … « [9]   Diesen Aufschub scheint Ottla dazu genutzt zu haben, die luftige, clowneske Rolle der Jüngsten noch ein wenig länger in Anspruch zu nehmen, und sie gab Widerworte, die den angepassteren Schwestern kaum je über die Lippen kamen.
    Für den Trotz, ja die Sturheit eigenständig gewonnener Überzeugungen hegte Kafka tiefste Sympathie, wie unreif sich das im Alltag auch ausnehmen mochte. Selbst er, ein wohlversorgter Beamter, ein Mann mit allen

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