Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
Wohnen einen der wenigen konkret -utopischen Ausblicke aus der Massengesellschaft der Vorkriegszeit bot. Der Tischler Karl Schmidt, der es gern hörte, wenn er als »Holz-Goethe« tituliert wurde, war Mitbegründer der gemeinnützigen ›Gartenstadt Gesellschaft Hellerau m.b.H.‹ wie auch Eigner der Deutschen Werkstätten, und allein die Tatsache, dass ein Betrieb von solcher Ausdehnung aus der Stadt hinaus zog, zu den Wohnstätten seiner {492} Arbeiter, erregte Aufsehen unter Philanthropen jeglicher Spielart. Künstler interessierten sich für Hellerau, fortschrittliche Architekten und Handwerker, auch Schriftsteller. Die von Émile Jaques-Dalcroze begründete ›Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus‹ war hier ansässig, ebenso der Verleger und Buchdrucker Jakob Hegner, der wiederum Beziehungen zu den Literatenszenen in Berlin, Leipzig und Prag unterhielt.
    Auch Kafka muss über die Gartenstadt – ein beliebtes Thema in den Kaffeehäusern – besser Bescheid gewusst haben, als die frühen Briefe und Tagebücher zu erkennen geben. Hätte er die freie Wahl des Wohnorts gehabt, so wäre Hellerau gewiss in die engere Wahl gelangt. Als er im Juni 1914 einen Vorschlag Otto Picks aufgriff, ihn nach Hellerau zu begleiten, waren dafür jedoch andere Gründe ausschlaggebend, und abgesehen von Kafkas Neugier auf Dalcrozes ›Bildungsanstalt‹ fuhr er wohl vor allem mit, um Möbel zu besichtigen.
    Dass er es nur schlecht vertrug, herumgereicht zu werden, hatte sich schon in Wien erwiesen, und auch in der Hellerauer Künstlerkolonie wird der schweigsame, stets lächelnde Mann aus Prag nicht allzu tiefe Erinnerungsspuren hinterlassen haben. Immerhin hatte Kafka ein Gespräch mit Hegner, der ihm französische Literatur mitgab und ihn als Übersetzer gewinnen wollte, und er saß in größerer Runde im Vorgärtchen des Kunstschmieds Georg von Mendelssohn, wo er mit dem fünfjährigen Sohn Peter spielen durfte (dem künftigen ThomasMann-Biographen). Kurt Wolff ließ sich sehen, Haas und noch ein paar weitere Bekannte aus Prag – ein paar Menschen zu viel. Kafka hatte bald genug, und obwohl er sich schon auf halbem Weg nach Berlin befand, verzichtete er auf die Weiterfahrt und sagte telefonisch ab. Einen Abstecher nach Leipzig machte er noch, um eine Ausstellung über Buchgrafik zu sehen, dann kehrte er nach Prag zurück.
    Man hatte sich für den Abend zur allgemeinen Nachbesprechung in einem Prager Kaffeehaus verabredet, und Kafka, der ohnehin das Gefühl hatte, sich »schrecklich aufgeführt« zu haben, wollte nicht erneut beiseite stehen. Doch von Hellerau sprach heute niemand mehr. Es war etwas dazwischengekommen, etwas Großes, Unausdenkbares. Auf dem Turm des Prager Rathauses und auf dem Deutschen Kasino wehten Trauerfahnen. Alle Kinos und Varietés waren geschlossen. In der Altstadt großes Gedränge, heimkehrende Ausflügler, neugierige, bewegte, aufgewühlte Menschen. In beinahe jeder Hand das Extrablatt {493} einer Prager Tageszeitung. Auf der Titelseite ein dicker schwarzer Rahmen, darin die riesige Schlagzeile: Der Thronfolger und seine Gemahlin ermordet. Die Schlagzeile des Jahrhunderts.

    »Schrecken über Schrecken«, notierte Kafka im Tagebuch. Doch das bezog sich keineswegs auf das Attentat von Sarajevo. [467]   Er war jetzt überempfindlich gegen Menschen, zog sich zurück, wo immer es nur anging, und an den erregten Debatten im Büro und am häuslichen Esstisch hat er sich wohl kaum beteiligt. Ja, Franz Ferdinand war tot: ein finsterer Mensch, den sich ohnehin kaum jemand als künftigen Kaiser hatte vorstellen können. Gavrilo Princip hieß der Attentäter, ein junger Fanatiker, der die österreichische Besatzungsmacht in Bosnien hasste. Aber dahinter steckten die Serben, denen ihre Siege in den Balkankriegen zu Kopf gestiegen waren und denen man jetzt endlich eine Lektion erteilen musste. »Mir bleibt doch gar nichts erspart«, hatte der alte Kaiser gesagt, als ihn die Schreckensbotschaft des zweifachen Mordes erreichte. Und inmitten all des Feldgeschreis, das sich jetzt erhob, war dies vielleicht die einzige Stimme, die in Kafka wirklich eindrang.

{494} Gerichtshof in Berlin
Frag nicht, wie viele Meilen du fort, nein frage, wie viele noch fehlen
Ovid, REMEDIA AMORIS
    An einem warmen Junitag des Jahres 1914 steht Franz Kafka in der Tür der elterlichen Galanteriewarenhandlung. Es ist Feierabend, Geschäftsschluss, die wenigen Angestellten treten nacheinander aus der kühlen, dunklen Wölbung des Ladens

Weitere Kostenlose Bücher