Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
vertraulichen Aussprache bedurfte. Gerade jetzt hatte sie sich dazu entschlossen, Wien zu verlassen und zu ihrer alten Stelle in Berlin zurückzukehren; natürlich hoffte darum Kafka auf eine gemeinsame Anreise, doch daraus wurde nichts. Und so musste er – anstatt Kraft zu sammeln für den bevorstehenden Auftritt – auch noch die lange Zugfahrt mit dem Vater überstehen, mit dem er schon seit vielen Jahren nicht mehr so lange allein beisammen gewesen war. Was dabei besprochen wurde, wissen wir nicht, doch steht zu befürchten, dass Hermann Kafka die Spielkarten hervorzog.

    Kafka war am Ziel, am Ziel so vieler Briefe, so vieler Klagen. Jetzt nur noch die schreckliche Schleifenfahrt im Varieté. Doch irgendwie ging auch Pfingsten vorüber, und irgendwann war es überstanden. Da alle Beteiligten an einem Ort versammelt waren, bedurfte niemand einer schriftlichen Zusammenfassung. Auch Szenenfotos dieses Stücks besitzen wir leider nicht, obgleich Felice eine Plattenkamera besaß. Doch routiniert zu handhaben wusste sie das Gerät offenbar nicht. Schon in Prag hatte sie sich an einer Porträtaufnahme ihres Verlobten versucht. Auf dem entwickelten Foto war dann nichts zu sehen gewesen als ein weißes Wölkchen.
    So bleiben uns nur Spuren, Erinnerungsblitze, das Flackern eines beschädigten Stummfilms: Felice Bauer im blauen Kleid, die vor aller Augen Kafkas Kuss empfängt; irgendwo im Raum Grete Bloch und ihr Bruder Hans, der stramme Zionist; die große Tafel mit Franz und Felice auf den Ehrenplätzen; Ottla, die stolze Schwester; die Tanten und Onkel, gewiss auch ein paar Kollegen, Felices junge, zu Tränen gerührte Sekretärinnen; die still leidende Erna, deren Blick freundlich auf Kafka ruht; das Geschenk Felices, ein in Wildleder gebundenes Buch, das er in den Händen dreht [462]   ; das vielfache Anstoßen von Gläsern; die betriebsame Besprechung der Aussteuer, das Vermessen von {489} Wäschestücken, die Ratschläge der Mütter, die gemeinsamen Einkäufe; schließlich, als einziges von Kafka selbst initiiertes Ereignis, ein gemeinsamer Besuch bei Martin Buber. Und dann die Rückfahrt. Im Abteil der Vater, die Mutter, die Schwester.
    Das ganze Programm, Akt für Akt. Vorzeitiges Verlassen der Bühne und des Zuschauerraums ausgeschlossen. Vier Tage benötigte Kafka, um sich zu einer Kritik aufzuraffen.
»Aus Berlin zurück. War gebunden wie ein Verbrecher. Hätte man mich mit wirklichen Ketten in einen Winkel gesetzt und Gendarmen vor mich gestellt und mich nur auf diese Weise zuschauen lassen, es wäre nicht ärger gewesen.
Und das war meine Verlobung und alle bemühten sich mich zum Leben zu bringen und, da es nicht gelang, mich zu dulden wie ich war. F. allerdings am wenigsten von allen, vollständig berechtigter Weise, denn sie litt am meisten. Was den andern blosse Erscheinung war, war ihr Drohung.« [463]  
    Geht Kafka nicht völlig fehl, so muss Felice Bauer diese wenig beschwingten Feiertage durchlitten haben als kompakte Strafe für Jahre der Verdrängungen und des unzeitigen Schweigens. Solange eine Ehe noch nicht zur Diskussion stand, hatte sie sich über Kafkas Eigenheiten nicht allzu viele Gedanken gemacht: Mit Humor, Kopfschütteln und harmlosen Ermahnungen ging sie darüber hinweg. Erst in dem Augenblick, da die tatsächliche Form des künftigen Zusammenlebens zu einem Problem wurde, das nicht länger verdrängt werden konnte, fand sie sich überraschenderweise vor einer Festung, vor einer Zugbrücke, die eilends hochgezogen wurde. Und jetzt rächte es sich, dass sie niemals ernsthaft versucht hatte, sich mit Kafka konkret zu verständigen, solange noch Zeit war.
    Unverständlich, geradezu bedrohlich muss ihr etwa der hartnäckige Widerstand erschienen sein, den Kafka dem Kauf einer gewöhnlichen bürgerlichen Wohnungseinrichtung entgegensetzte. Zweifellos war ihr schon beim ersten Besuch bei den Kafkas aufgefallen, dass das Zimmer ihres Verlobten wenig anheimelnd, ja geradezu karg eingerichtet war. Bald stellte sich heraus, dass dies keine bloße Nachlässigkeit war, sondern ›System‹ hatte: Auch Möbel waren für Kafka eine Grundsatzfrage – wie mittlerweile fast alles .
»Was für Zimmer habe ich jetzt wieder gesehn! Man muss glauben, dass sich die Leute unwissend oder mutwillig im Schmutz begraben. Wenigstens ist es hier so, sie fassen Schmutz ich meine überladene Kredenzen, Teppiche vor {490} dem Fenster, Photographieaufbaue auf den missbrauchten Schreibtischen, Wäscheanhäufungen in

Weitere Kostenlose Bücher