Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
hatte, ist auffällig, als vereinzeltes Indiz aber wohl doch zu schwach.
Grete Bloch war komplizierter als Felice Bauer, empfindlicher, leidenschaftlicher und sicherlich auch sexuell aktiver. Das Erotische war für sie eine bewusste Option, auch gegenüber Kafka, den sie anziehend fand und dessen Briefe sie nach eindeutigen Signalen abtastete – teils misstrauisch, denn hier drohte doppelter Verrat an der Berliner Freundin, teils begehrlich, denn auch sie hungerte nach Zuwendung. Vermutlich hielt sie ihn anfangs für einen liebenswert ungeschickten, dann aber doch wieder raffinierten, weil die eigenen Schwächen ausstellenden Charmeur – ein Urteil, das sie revidieren musste, nachdem Kafka mehrere ihrer Briefe nicht beantwortet hatte. Sie warb jetzt um ihn, und wie genau sie die erotische Temperatur zu messen suchte, belegt indirekt das Plädoyer Kafkas von Anfang Februar 1914, mit dem er seine reservierte Haltung endgültig aufgibt: Er gesteht, »dass ich […] gleichzeitig gedrängt und gehalten, irgendwie Ihnen näher zu kommen versuchte und dass ich das Misslingen dessen trotz aller schönen Selbsterkenntnis Ihnen anrechnete. Und doch liegt es nur daran, dass Sie mit mir über F. hin bekannt wurden ...« [474] Die Unterstreichungen stammen nicht von Kafka, sie stammen von der Empfängerin, und die doppelte Hervorhebung des Wörtchens »nur« spricht Bände. Ganz ausdrücklich – so schien es ihr – betrachtete er hier die eigene Braut als Hindernis.
An intimen Signalen mangelte es auch in den folgenden Wochen nicht. »Ihre kleine Karte«, schrieb Kafka, »hat mich mehr gefreut, als alles was ich von Berlin bekommen habe. Sie sind – jetzt sage ich eine ungeheuere Dummheit oder vielmehr: dumm ist nicht was ich sage, sondern dass ich es sage – Sie sind also das beste liebste und bravste Geschöpf.« Hier zuckte Grete Bloch nun doch zurück; das war schon beinahe der Ernstfall, der Verrat. Nur Kafkas inoffizielle Verlobung wartete sie noch ab, dann verlangte sie ihre Briefe zurück – die konventionelle Antwort nach den Regeln des Eheprogramms. Doch Kafka dachte gar nicht daran: »Meine Verlobung oder meine Heirat ändert nicht das geringste an unserem Verhältnis, in welchem wenigstens für mich schöne und ganz unentbehrliche Möglichkeiten liegen.« [475]
Auch gegenüber Felice machte Kafka keinerlei Hehl aus seiner Sympathie für die einstige Botin: Neue Fußangeln, neue Keime zu Missverständnissen legte er wahrhaftig genug, und stets mit der unschuldigsten Miene. Doch er hatte Glück, denn die Braut, sonst zumeist hellhörig, war diesmal nicht ganz bei der Sache und nahm wohl {499} auch Kafka als erotisches Subjekt nicht ernst genug. Ja, es gelang ihm sogar, Felice dazu zu überreden, Grete Bloch zu einem mehrmonatigen gemeinsamen Leben in der neuen Prager Wohnung einzuladen – Flitterwochen zu dritt, ein extravagantes Projekt, das in Kafkas Familie und wohl selbst bei den Freunden größte Verblüffung ausgelöst hätte. War Kafka tatsächlich so naiv, die Spannungen zu übersehen, die sich aus einer solchen Konstellation unweigerlich ergeben mussten?
Grete Bloch vermochte daran nicht mehr zu glauben, und mit wachsendem Unwillen beobachtete sie Kafkas unaufhörliches Taktieren. Dass sie anlässlich des gefürchteten ›Empfangstags‹ in Berlin einen Schock der Desillusionierung erlitt, wie Canetti vermutet, ist gewiss – doch keineswegs, weil sie erst jetzt den Verlust eines potenziellen Gefährten erfasste, sondern weil sie Kafka nicht wiedererkannte: Sieben Monate lag ihre erste und einzige Begegnung zurück, und nun traf sie auf einen zerfahrenen, unbeholfenen, schweigsamen Mann, der der eigenen Verlobung wie einer Trauerfeier beiwohnte und hilfesuchend um sich blickte.
Kafka begriff durchaus, dass hier Fliehkräfte am Werk waren, die von ihm selbst ausgingen. Was vermochten dagegen Briefe? »Was Sie für mich im Ganzen bedeuten, das können Sie nicht wissen«, versicherte er Grete Bloch gleich nach der Rückkehr. [476] Doch nach diesem Anblick wollte sie solche Worte nun nicht mehr hören. Der Mann wusste schlechterdings nicht, was er wollte. Keine Spur mehr von Charme, Humor und erotischem Spiel. Eine schwankende Gestalt, die man in die Ehe förmlich stoßen musste. Aber war denn das ihre Aufgabe? Sie hatte eigene Sorgen, ihr Ernstfall fand in München statt, nicht in Berlin. Sie hatte getan, was sie konnte. Kafka aber, knapp vorm ersehnten Ziel, fand noch immer Grund zur
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