Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
verstärken. Die Mauern höher ziehen.
Erst Jahre später hat Kafka offenbar verstanden, dass er im Begriff war, ein Zwangssystem zu errichten, welches sein Leben nicht nur narzisstisch erhöhte, sondern zugleich alle Lebensenergie verzehrte. In der Erzählung DER BAU fand er dafür das eindringlichste Sinnbild: Ein Ich, das sich einmauert, um autark zu bleiben, befindet sich in permanentem Belagerungszustand und ist darum verurteilt zu ewiger Wachheit. Alles ist gleich bedrohlich, jede Stelle gleich verwundbar. Nirgendwo darf man nachgeben, jede Nachlässigkeit wird bestraft, und ein psychischer ›Bau‹, der auch nur an einer einzigen Stelle undicht ist, wird ebenso zerstört werden wie ein Schiff, das an einem winzigen Leck zugrunde geht. Und endlich: Wo nichts hereindarf, wo alle Ritzen verstopft sind, dort kann auch nichts hinaus . »Meine Gefängniszelle – meine Festung«, heißt es lakonisch im Tagebuch, und eine präzisere, treffendere Gleichung ist schwerlich denkbar. [459]
Diese fundamentalistische Logik der Reinheit, der alles für Schmutz gilt, was nicht absolut rein ist, bietet den Schlüssel zu jener eigentümlichen Sturheit, die Kafka sich immer wieder vorwerfen lassen musste und die ihn nach eigener Überzeugung auch die Ehe kostete. Ein Ich, das an jedem Punkt gleich empfindlich ist, weil es überall leckschlagen kann, vermag nicht zu unterscheiden zwischen {487} Wichtigem und Marginalem, es kann und darf diese Unterscheidung nicht treffen. Eingeebnet wird damit zunächst das Gefälle zwischen Ernst und Spaß, zwischen Arbeit und Entspannung: Sehr bestimmt sprach Kafka von »Arbeit«, wenn er die nächtlichen literarischen Versuche meinte (das Büro hieß nur »Büro«), und ›Freizeit‹ im heutigen Sinn – nämlich Zeit, die von Verantwortlichkeit entbunden ist – kannte er spätestens seit der schöpferischen Phase im Herbst 1912 überhaupt nicht mehr. Einem Hobby nachzugehen, wäre Kafka habituell unfähig gewesen – man kann sich ihn als Sammler, als Bastler oder als ausdauernden Skatspieler schlechterdings nicht vorstellen.
Doch auch den Unterschied zwischen grundlegenden Überzeugungen und peripheren Gewohnheiten begann Kafka allmählich zu verwischen: Alles schien ihm gleich bedeutsam, alles gleich nah dem Zentrum. Selbst anlässlich der kleinen privaten Verlobungsfeier an Ostern 1914 brachte er es nicht über sich, das Fleisch anzurühren, das vor ihm auf dem Tisch stand, obwohl ihm bewusst war, dass er durch diese Weigerung den feierlichen Augenblick störte. Nein, gerade hier, inmitten von Menschen, die ihn anders wollten, als er war, musste das Visier geschlossen bleiben. Wohingegen er im Restaurant mit Erna, die ihn bewunderte, auch lockerlassen und ein Fleischgericht wählen konnte: »Wärest Du dabei gewesen«, gestand er Felice, »hätte ich wahrscheinlich Knackmandeln bestellt.« [460] Den Berliner Kommentar hierzu kann man sich ausmalen.
Dieses Bedürfnis, Haltung zu bewahren, sich im Alltäglichen kompromisslos und sichtbar abzugrenzen, machte sich mit zunehmender und schließlich kaum mehr beherrschbarer Dringlichkeit bemerkbar, je näher der fatale ›Empfangstag‹ rückte, jene öffentliche, von beiden Familien und zahlreichen Gästen zelebrierte Verlobung, deren Ankündigung im Berliner Tageblatt Kafka ein Albtraum war: Das klinge ihm so, schrieb er an Felice, »als stünde dort, dass F. K. am Pfingstsonntag eine Schleifenfahrt im Variete aufführen wird«. [461] Er wusste, wovon er sprach, denn dies war nicht der erste Empfangstag, den er in Berlin erlebte. Doch all die Verwandten und Freunde Felices, die im Jahr zuvor Schlange gestanden waren, um dem glücklichen Bruder Ferri und seiner Lydia ein Geschenk zur Verlobung zu überreichen – gerade sie würden ein besonders neugieriges und wachsames Auge auf den Prager Bräutigam werfen und sich fragen, ob es wohl diesmal klappte bei den Bauers.
Nein, längst war dies nicht mehr seine Veranstaltung, denn immer mehr Hände griffen jetzt bedenkenlos in sein Leben. Als er vertraulich bei Felice anfragte, ob es denn möglich sei, Ottla eine kleine Freude zu machen und sie schon einige Tage vor der Feier nach Berlin fahren zu lassen, da musste Kafka wütend mit ansehen, wie sein Plan sofort zum Verhandlungsgegenstand zweier Familien wurde, die sich ganz ohne sein Zutun auf eine Lösung verständigten (Ottla fuhr mit der Mutter). Auch Grete Bloch begriff offenbar nicht, wie sehr Kafka des Beistands und der
Weitere Kostenlose Bücher