Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
in den hellen Sommerabend, grüßen, mit dem Hut in der Hand, den Sohn des Prinzipals und machen sich auf den Heimweg. Nachdem der Letzte seinem Blick entschwunden ist, verschließt Kafka die Ladentür, denkt einen Augenblick nach und setzt sich dann vor dem Eingang auf die Straße.
Nicht lange, so kommt ein ihm bekanntes Ehepaar vorüber. Der Mann berührt ihn an der Schulter und fragt, was das zu bedeuten habe. Kafka antwortet, er sei unfähig, mit den Angestellten und Kunden auszukommen, und darum werde er dieses Geschäft am nächsten Tag nicht mehr öffnen. Der Bekannte wundert sich. Auch andere geben ihr Geschäft auf, wendet er ein, das sei nichts Besonderes. »Aber warum sitzen Sie auf der Erde?« »Wohin soll ich gehn?«, erwidert Kafka …
Die Szene ist nicht real, aber authentisch; nachzulesen ist sie in seinem Tagebuch [468] , abgespielt hat sie sich in Kafkas Kopf, wenige Tage nach seiner Verlobung in Berlin, an einem warmen Juniabend des Jahres 1914, während er, den Schlüssel in der Hand, die Angestellten des elterlichen Geschäfts verabschiedete. Für ein paar Wochen trug er hier die Verantwortung, denn die Eltern waren zur Erholung nach Franzensbad gereist, wie beinahe in jedem Sommer. Allerdings, das Geschäft endgültig zu schließen … es wäre wohl vergebliche Mühe gewesen, ihnen diesen Traum zu erklären. Darum setzte sich Kafka nicht auf die Straße, sondern ging in die stille Wohnung schräg über den Altstädter Ring und notierte, was sich beinahe zugetragen hätte.
Die kurze, in Ich-Form verfasste Szene ist charakteristisch für Kafkas Stimmung nach der desillusionierenden Verlobungsfeier, nach dem Herumirren in Möbel- und Wäschegeschäften, nach all den wesenlosen Berliner Stimmen, die allmählich ununterscheidbar wurden. Ihm war, als treibe er in Brackwasser. Hatte er dies alles wirklich gewollt? Felice war fremd geblieben, noch immer senkte sie den Blick, wenn er sich ihr näherte, während er selbst in keinem Moment die argwöhnische Aufmerksamkeit der Familie vergaß. »Alles Recht, das mir die Sitte aus der Tatsache des Verlobtseins gibt ist für mich widerlich und völlig unbrauchbar«, hatte er schon Wochen zuvor erkannt. »Verlobtsein ist ja jetzt nichts, als ohne Ehe eine Komödie der Ehe zum Spass der andern aufzuführen. Das kann ich nicht, dagegen kann ich darunter irrsinnig leiden.« [469] Genau so war es gekommen. Nur die innere Wucht dieses Erlebnisses hatte er nicht erwartet.
Oberflächlicher und kürzer werden seine Briefe, geradezu trübe ihre Sprache. Er kramt die alten Klagen hervor: Nervosität, Kopfschmerzen, Übermüdung, schlechter Allgemeinzustand. Es klingt, als sage er eine Lektion auf. Ein Treffen mit Grete Bloch sagt er ab, denn er könne sich kaum zeigen, wie die lakonische Begründung lautet. Sie hat, das ist offensichtlich, die Erwartungen nicht erfüllt, die Kafka in ihr leibhaftiges Auftreten setzte; sie gehörte, trotz aller Zerrissenheit, auf Felices Seite der Welt. Der Wärmestrom musste versiegen, im selben Augenblick, da ›das Gegebene‹ sein Recht verlangte. Kafka wird es sich einprägen, und zwei seiner Romane werden davon erzählen: Wenn es darauf ankommt, laufen die Frauen über zum Gegebenen, zu dem, was ist, wie es ist.
Die schwer durchschaubare Rolle, die Grete Bloch in Kafkas Leben spielte, hat immer wieder zu Spekulationen verführt, die über Jahrzehnte weder untermauert noch widerlegt werden konnten. Das vermochte sie keineswegs aus der Welt zu schaffen, sondern verlieh ihnen die Aura des kulturellen Gerüchts: je ›pikanter‹, desto hartnäckiger. Die abenteuerlichste dieser Dichterlegenden besagt, dass aus der Beziehung zwischen Kafka und Grete Bloch ein Kind hervorging, von dem allerdings Kafka nie erfahren haben soll. Max Brod war es, der diese Geschichte in die Welt setzte und mit seiner Autorität als Vertrauter des angeblichen Vaters beglaubigte. Freilich, Beweise vermochte er nicht vorzubringen. Was war geschehen?
Es war im April 1940, da Grete Bloch, seit längerem im Exil in Italien, an einen Freund, den Musiker Wolfgang A. Schocken, eine Art Bekenntnisbrief schrieb. Darin kam sie auf einen mehrere Jahre zurückliegenden Aufenthalt in Prag zu sprechen, eine Erinnerung, die sie zu einem späten Geständnis veranlasste:
»Ich besuchte damals das Grab des Mannes, der mir so unendlich viel bedeutete, 1924 starb, seine Meisterschaft wird heute noch gepriesen. Er war der Vater meines Jungen, der nahezu 7 Jahre
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