Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Freiheitsgraden seines Alters und Geschlechts, musste {22} sich immer wieder gewaltsam versteifen, sich psychisch förmlich festhaken, um gegenüber den eigenen Eltern zu bestehen und ihre Interventionen abzuweisen – wie erst die abhängige, wenig gebildete und ihres künftigen Wegs noch völlig unsichere Ottla. Er versuchte sie zu bestärken, half ihr im Umgang mit Büchern, brachte Nachrichten aus dem Prager Kulturleben und las ihr vor. Auch der eigentümliche missionarische Eifer, mit dem Kafka die fachmännische Pflege des eigenen Körpers verfocht, beeinflusste und beeindruckte die Schwester: Sie fing an zu turnen und entwickelte sich im Lauf der Jahre zu einer strengen Vegetarierin. Als Kafka sich schließlich für die Prager zionistische Szene zu interessieren begann, ging Ottla sogleich einen Schritt weiter und trat dem ideologisch höchst anspruchsvollen ›Verein jüdischer Mädchen und Frauen‹ bei.
Die Richtung stimmte. Freilich bedachte Kafka nur selten, dass Ottla, die mit Freundlichkeit leicht zu lenken war, auch eigene, fremde Potenziale barg. Ihre sozialen Bedürfnisse und Fähigkeiten waren weit stärker ausgeprägt als die seinen, und mit einer Art abstrakter Bewunderung, doch durchaus nicht mit ungetrübter Freude beobachtete er ihre zunehmende moralische Kompromisslosigkeit. 1914 begann Ottla, ihre freien Sonntage in einer Blindenanstalt zu verbringen, wo sie vorlas, Zigaretten verteilte und Freundschaften schloss.
»Ein allerdings etwas gefährliches und schmerzliches Vergnügen. Was man sonst mit Blicken ausdrückt, zeigen die Blinden mit den Fingerspitzen. Sie befühlen das Kleid, fassen den Ärmel an, streicheln die Hände und dieses grosse starke, von mir leider, wenn auch ohne Schuld, vom richtigen Weg ein wenig abgelenkte Mädchen nennt das ihr höchstes Glück. Weiss, wie sie sagt, erst dann, warum sie glücklich aufwacht, wenn sie sich an die Blinden erinnert.« [10]
Man hört die Sorge und den lebenspraktischen Verstand der Eltern, vielfach gedämpft, doch unverkennbar. Erst, als Kafka schließlich erfuhr, dass Ottla ganz auf eigene Verantwortung eine Liebesbeziehung eingegangen war, mit einem Mann, der kein Jude und nicht einmal Deutscher war – erst in diesem Moment dürfte ihm klar geworden sein, dass sich Ottla auch von ihm emanzipieren musste, um die gemeinsame geschwisterliche Fluchtbewegung an ein Ziel zu bringen. Ja, es war richtig, auch »unterdrückt« hatte er sie, wie er im Tagebuch notierte, nachdem er einen Brief von ihr gelesen und dort seine eigenen Wendungen wiedergefunden hatte: »Als hätte es mein Affe geschrieben. {23} « [11] Doch sie machte sich frei, und Kafka, der um neun Jahre Ältere, Klügere, Erfahrenere, hatte das Nachsehen im buchstäblichen Sinn. Dass die spätere, gut ausbalancierte Freundschaft zur Schwester gerade dadurch erst möglich würde – das war dem trotzigen Mädchen noch längst nicht anzusehen.
»Nicht zwanzig Worte täglich« … das war allerdings schwer zu glauben für jemanden, der die Kafkas nicht aus der Nähe kannte. Wehte denn dort schon immer so eisige Luft? – Keineswegs. Es hatte einen Bruch gegeben, einen Verrat. Und Franz besetzte dabei die Hauptrolle.
Am 27.November 1910 hatte Kafkas Schwester Elli, damals einundzwanzig Jahre alt, den um sechs Jahre älteren Geschäftsmann Karl Hermann geheiratet. Natürlich war dies eine arrangierte Ehe, und weder den Eltern noch Elli selbst wäre es in den Sinn gekommen, das sozial heikle Andocken einer fremden Familie und das künftige Schicksal des schwer erkämpften Vermögens einer verliebten Laune zu überlassen. Niemals, so weit man zurückdenken konnte, war das bei den Kafkas und den Löwys anders gehandhabt worden, und sie selbst, die Eltern, waren ja der lebende Beweis dafür, dass auf diese Weise auch durchaus glückliche oder zumindest funktionierende Ehen zustande kamen, stabile Bündnisse, die fortdauerten bis in den Tod.
Einzelheiten über die ›Anbahnung‹ von Ellis Ehe sind nicht überliefert, und darum wissen wir auch nicht, wie groß die Auswahl geeigneter Kandidaten war, mit denen die herbeigerufene jüdische Vermittlerin aufwarten konnte. Sicherlich gab es das eine oder andere diskrete Treffen, bei dem der Vater die Geschäftstüchtigkeit und ›Bonität‹ des Bewerbers abklopfte – grundsätzlich führte er das Wort, wenn es um Geld ging –, während die Mutter die äußere und vor allem die charakterliche Erscheinung prüfte, um sie dann mit der
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