Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Gerichts.
Ein Raum im Hotel Askanischer Hof. Ein Neben- oder Hinterzimmer, dessen einziges Fenster auf den Hof blickt. Ein Nachmittag im Hochsommer; die Mauern reflektieren Licht und Hitze. In dem engen Geviert stört unablässiger Lärm, trotz des Sonntags, und schlechte Gerüche dringen herein.
Kafka gegenüber sitzen drei Frauen: Felice Bauer, ihre Schwester Erna, daneben Grete Bloch. Dass auch Erna dabei ist, verwundert und ärgert ihn: Wohl ist sie die Einzige, die ihn noch freundlich anblickt, doch er weiß wenig von ihr, und persönliche Worte sind noch niemals zwischen ihnen gefallen. Auch Grete Bloch würde er am liebsten hinausbitten. Was hatte sie hier zu suchen, jetzt, da er mit seiner Braut endlich wieder einmal hätte allein sein können, nach so langer Zeit? Er versteht es nicht.
Felice Bauer öffnet ihre Handtasche, zieht einen Brief heraus, eine Botschaft Kafkas an Grete Bloch. Die Adressatin erklärt dazu, dass sie nach diesem Brief verpflichtet gewesen sei, ihre Freundin zu warnen. Die Braut kündigt an, dass sie nun Klarheit haben will über Kafkas ständige Vorbehalte. Dasselbe hat sie auch schon ihrer Familie erklärt, es gab Streit, darum ist sie jetzt nervös, ungeduldig, müde. Sie lässt sich gehen, gähnt, wischt sich mit der Hand die Nase, fährt in die Haare. Reißt sich dann plötzlich zusammen, wird aggressiv, sagt Worte von schonungsloser Offenheit, spricht Intimes an, ohne Rücksicht auf die Zeuginnen.
Die Fragen, die in diesem Verhör an Kafka gestellt werden, sind {504} nicht überliefert. Die Verteilung der Rollen hingegen ist mit Händen zu greifen. Felice Bauer will nicht verzichten auf das, was jede Frau ihres sozialen Status erwarten darf. Sie will nicht mit einem Mann vor den Standesbeamten treten, dessen Blicke den Ausgang suchen. Sie will nicht Arbeit, Familie, Freundinnen, urbane Vergnügungen aufgeben, um in Prag mit einem missmutigen Beamten zu leben, den es genau dort hinzieht, wo sie herkommt. Und sie will sich nicht anpassen an einen Menschen, der immerzu von Verständnis und Liebe spricht und der dennoch unnachgiebig bleibt im Kleinsten, der den Braten nicht anrührt, der zu seinen Ehren aufgetragen wird, der über die »persönliche Note« die Hände ringt, die sie – wie es doch selbstverständlich ist – ihrer künftigen Wohnung geben möchte, und der sie schließlich gar beschwört, auf eine Hochzeitsfeier nach jüdischem Ritus zu verzichten, ohne Rücksicht auf ihre Familie.
Kafka aber kann die geforderte Erklärung nicht geben. Was in 350 Briefen nicht gelungen ist, lässt sich in ein paar Sätzen nicht nachholen, und vor Zeugen schon gar nicht. Gewiss, dieses und jenes mag bloßer Trotz gewesen sein, das kann er einräumen. Doch sie versteht seine Lage nicht, und sein Schreiben interessiert sie nicht, weniger denn je. Sie ist nichts als unglücklich und darum feindselig. Kafka beginnt, sie zu beobachten. Er denkt daran, dass dies wohl die letzte Begegnung ist. Das letzte Mal nach so vielen Worten und Gedanken und Träumen. Er hört nicht mehr recht hin. Felice wartet. Hat er nicht doch noch etwas vorzubringen? Offenbar nicht. Dann bleibt wohl nichts übrig, als das Urteil zu verkünden: Auflösung der Verlobung. Es wird keine Heirat geben. Es ist das einzig Vernünftige, das einzig Rechte. Zu sagen gibt es dazu nichts mehr. Verlegen werden die Stühle gerückt, man erhebt sich. Nur Felice bleibt sitzen.
Kafka fährt nach Charlottenburg. Er muss es ihren Eltern erklären. Der Vater, der von einer Auslandsreise eigens zurückgekehrt ist, um die allgemeine Auflösung noch abzuwenden, beurteilt alles mit ruhiger Überlegung. Die strenge Frau Bauer sitzt am Tisch und weint. Natürlich ist es dieses exaltierte Fräulein Bloch, die an allem Schuld hat. Sie war hier noch nie gern gesehen, diese angebliche Freundin, aber erst jetzt, da sie sogar die selbständige und kluge ›Fe‹ so völlig verrückt gemacht hat, erkennt man, wie berechtigt das Misstrauen war. Was soll nun geschehen? Kafka gehört schon fast zur Familie, Grete Bloch aber nicht. Und die Familie muss doch zusammenhalten.
Kafka verspricht, am nächsten Tag wiederzukommen. Er verlässt das Haus, geht die Mommsenstraße entlang, wendet sich noch einmal um. An den offenen Fenstern stehen, zu seiner Überraschung, Felices Eltern und eine Tante, sie winken Kafka zum Abschied zu, als stünden sie auf dem Bahnsteig. Kafka hebt die Hand, geht weiter. Dass er nach wenigen Metern an der Wohnung Musils
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