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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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den Verdacht verfallen, Brod könne dies ernst meinen, so hätte er seine PROCESS-Akten gewiss zurückverlangt.
    Brod war ein gewiefter Publizist, doch er hatte weder das Handwerkszeug noch die Skrupel des geschulten Philologen. Er fand nichts dabei, stenographische Passagen Kafkas durchzustreichen und auf dasselbe Blatt seine eigene Reinschrift zu notieren. Jedes Mittel war ihm recht, um die Leser, die von Kafkas Genie noch zu überzeugen waren, vom unfertigen Zustand des Werks abzulenken; er ergänzte Punkte und Kommata, vereinheitlichte Namen, ja, er verschob sogar Sätze, um ein unvollendetes Kapitel abzurunden. Was allzu fragmentarisch war, ließ er weg oder verbannte er in den Anhang späterer Ausgaben, das Übrige ordnete er nach Gefühl. Auf so profane Weise entstand schließlich der Text, über den Generationen von Exegeten sich beugten, als handele es sich um eine Offenbarung.
    Heute, da es jedem freisteht, die kostbaren Originalblätter als Faksimiles zu betrachten [517]   , ist unschwer zu erkennen, dass Brod gute Arbeit leistete, gemessen an den Umständen, die widriger kaum sein konnten. Sein Ziel war es, nach dem Tod Kafkas dessen Hauptwerk so bald wie irgend möglich an die Öffentlichkeit zu bringen, und dieses Ziel erreichte er innerhalb von nur neun Monaten. Die Frage, wie der Autor die Bausteine letztendlich angeordnet und miteinander verfugt hätte, vermochte Brod nicht zu beantworten, und trotz hochgerüsteter Editionsphilologie ist es bis heute niemandem gelungen, eine rundum befriedigende Lösung zu liefern. Das Problem ist, mit diesem Manuskript, unlösbar. Und so bleibt uns nichts übrig, als ein von Kafka selbst verfasstes Inhaltsverzeichnis zu erhoffen, das eines Tages auf irgendeinem vergessenen Prager Dachboden entdeckt werden wird …

    Hätte Kafka in böser Absicht seinen künftigen Editoren das Leben so schwer wie möglich machen wollen, er hätte es raffinierter kaum anstellen können. Dabei hat der chaotische Zustand seiner Manuskripte, der dann zwischen den einschlägigen Spezialisten zu jahrzehntelangen Streitigkeiten führte, mit Kafkas notorischer ›Geheimniskrämerei‹ gar nichts zu tun. All diese Widrigkeiten sind – so paradox es klingt – die Folge eines ganz und gar pragmatischen Entschlusses, mit dem er nichts anderes im Sinn hatte, als sein Schreiben zu disziplinieren . Er hatte darüber gegrübelt, warum er mit dem VERSCHOLLENEN nicht zum Ende gekommen war, und er wollte es diesmal anders und besser machen. Sein Verlangen, Bilder und Szenen ohne jede Unterbrechung und Störung ekstatisch aus dem eigenen Innern hervorzutreiben, ähnlich der Geburt eines lebendigen Organismus, war unerfüllbar, sobald jene Bilder den Rahmen der short story sprengten und sich zu einem eigenständigen Kosmos entfalteten. Es gab Grenzen der menschlichen Physis: Schon häufig hatte er sie gespürt; jetzt begann er, sie zu akzeptieren. Auch der Romancier muss schlafen, und säße er in einem Keller hinter undurchdringlichen Mauern, so würde er doch den eigenen bedürftigen Körper nicht los, das Leben, die Störung schlechthin.
    Regelmäßiger zu arbeiten: Das war eine grundlegende Voraussetzung, von der Brod ihn seit Jahren zu überzeugen suchte. Doch Kafka fühlte sich außerstande, dem Schreiben die Stetigkeit und den Rhythmus eines Tagewerks aufzuzwingen. Wenn durch die inneren Türen {540} kein Laut und kein Lichtstrahl drang, dann war es besser, abzuziehen und es am nächsten Tag erneut zu versuchen. Hatte man diese Geduld nicht, so lief man Gefahr, die schönste Arbeit durch bloße äußerliche ›Konstruktionen‹ zu ruinieren. Die Arbeit an RICHARD UND SAMUEL hatte es doch vor Jahren schon erwiesen: Es funktionierte nicht. Mit Schaudern dachte er zurück an jenes nach Stundenplan erstellte Gemeinschaftswerk, das schließlich Brod sich nur mit beleidigter Miene hatte aus der Hand nehmen lassen.
    DER PROCESS allerdings eröffnete neue handwerkliche Möglichkeiten, an die keiner der Freunde je gedacht hatte. Kafka wollte einen wirklichen Prozess schildern, mit allen Insignien des Juristischen, und er wollte die Wirkung dieses Prozesses auf einen Angeklagten beschreiben, dessen Lebenskreis überschaubar ist und dessen Existenz sich in einer sehr begrenzten Zahl alltäglicher Beziehungen erfüllt: Wirtin, Nachbarin, Geliebte, Mutter, Kollegen, Vorgesetzte, Kunden, Rechtsanwalt, Ratgeber. War es tatsächlich notwendig, sich durch das Schicksal dieses Menschen so linear und

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