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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Direktor Marschner, hätte es besser gewusst, denn er war seinerzeit Konzipist der Anstalt und wahrscheinlich Zeuge des Vorfalls. Vielleicht erfuhr Kafka später von dieser Geschichte. Sie hätte ihn berührt, seine Freunde hätte sie wohl eher erheitert, und dass sein rabiater Namensvetter (und womöglich entfernter Verwandter) genau wie er selbst nach dem regierenden Kaiser benannt war, machte alles nur noch komischer.
    Josef K.: Das Kürzel war zuerst da, am 29.Juli 1914, nur einen Tag {537} nachdem Kafka beschlossen hatte, sich in schriftstellerische Arbeit zu »retten«. Eine Vater-Sohn-Geschichte war es wiederum, die sich ihm aufdrängte und deren Protagonist zuerst »Hans Gorre« hieß. Dann jedoch verfiel Kafka auf den Gedanken, an die Stelle des Namens eine Chiffre zu setzen, die eindeutig war und diskret zugleich. Er wusste , was K. bedeutet. Der Leser kann es sich denken .
    Ob Kafka mit diesem Schatten seiner selbst noch weitere Experimente anstellte, ehe er ihn durch die Mühle eines Prozesses schickte, wissen wir nicht. Im ›Neunten Tagebuchheft‹, das er für den Beginn des Romans benutzte, fehlen etliche Seiten: Schreibversuche aus jenen ersten Tagen einer halb ersehnten, halb aufgenötigten neuen Einsamkeit, die er in der Wohnung seiner Schwester fand. Erst um den 10.August – dies lassen die erhaltenen Blätter erkennen – kam Kafka der entscheidende Einfall. Er machte, wie üblich, einen kurzen Querstrich, um den Beginn eines neuen Anlaufs zu markieren, und schrieb dann einen sonderbaren Satz: »Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, war er eines Morgens gefangen.«
    Gefangen? So steht es im Manuskript, gut lesbar. Doch der Begriff führt auf Abwege, wie Kafka sehr bald erkannt haben muss. Gefangennahme ist ein kriegerischer Akt, man las jetzt täglich in der Presse davon, und auf diesem Weg war der Krieg auch in die ersten Worte seines Romans eingesickert. Zu Friedenszeiten aber – und im PROCESS herrscht ja ausdrücklich Friede – ist Gefangennahme eigentlich nur denkbar als Kinderspiel oder als Albtraum. Er musste den Satz verbessern, denn ein Traum war es gewiss nicht, den er schildern wollte, ebenso wenig wie in der VERWANDLUNG. Am folgenden Tag hatte er die Lösung. Zwei Federstriche genügten, um den Roman auf ein anderes Gleis zu setzen. Und so entstand einer der wohl berühmtesten ›ersten Sätze‹ der Romanliteratur: »Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet .« [515]  

    Kafkas PROCESS ist ein Monstrum. Nichts ist hier normal, nichts ist einfach. Ob man sich mit der Entstehungsgeschichte, dem Manuskript, der Form, dem stofflichen Gehalt oder mit der Deutung des Romans beschäftigt: Der Befund bleibt stets derselbe. Finsternis, wohin man blickt.
    Das bekam zuerst Max Brod zu spüren, dem Kafka immer wieder einige Seiten vorlas und der schließlich das Manuskript an sich nahm, um es vor der drohenden Vernichtung zu bewahren. DER PROCESS war ein Hauptwerk und darum geeignet, den literarischen Ruhm des Freundes aufscheinen zu lassen wie eine Supernova, daran hatte Brod nicht den geringsten Zweifel. Doch was er am Ende in Händen hielt, waren 161 lose Blätter, meist beidseitig beschrieben, herausgerissen aus verschiedenen Heften. Kafka hatte diese Blätter in eine notdürftige Ordnung gebracht, indem er jeweils kleine Bündel, die man als ›Kapitel‹ deuten konnte, mit einem Umschlagblatt und einem provisorischen Titel versah. Doch es gab ›Bündel‹, die nur aus einem einzigen Blatt bestanden, bei anderen wiederum war es zweifelhaft, ob sie nicht doch mehr als ein Kapitel enthielten. Weder hatte Kafka sich darüber geäußert, welche Teile er als abgeschlossen betrachtete, noch hatte er sie nummeriert. Brod fand sich demnach vor einem Sammelsurium fertiger, nahezu fertiger, halbfertiger und eben erst begonnener Kapitel, deren Reihenfolge er selbst festlegen musste, sollte daraus jemals ein Buch werden. Gewiss, noch mehrere Jahre lang hatte er Gelegenheit, den Autor selbst danach zu fragen. Doch davor hütete er sich. Er war froh, diesen Schatz in der eigenen Schublade sicher verwahrt zu haben, und so beschränkte er sich darauf, Kafka in gewohnter Manier unter Druck zu setzen, indem er öffentlich von einem »vollendeten« Roman plauderte und einmal gar drohte, er werde den PROCESS »auf eigene Faust zu Ende schneidern«. [516]   Wäre Kafka je auf

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