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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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vorübergeht, weiß er wahrscheinlich nicht. Dort winkt niemand.
    Am nächsten Morgen, nach qualvoller Nacht, nimmt Kafka einen Briefbogen des Askanischen Hofs zur Hand.
»Nun weiss ich nicht mehr, wie ich Euch ansprechen soll und darf.
Ich werde nicht kommen, es wäre eine unnütze Quälerei für uns alle. Ich weiss, was Ihr mir sagen würdet. Ihr wisst, wie ich es hinnehmen würde. Ich komme also nicht.
Ich fahre wahrscheinlich heute nachmittag nach Lübeck. Ich nehme als verhältnismässig kleinen Trost, aber immerhin als Trost den Gedanken mit, dass wir einander gut bleiben können und gut bleiben, wenn auch die Verbindung, die wir alle wünschten, sich jetzt ebenso allen als unmöglich erwiesen hat. Felice hat Euch gewiss ebenso wie mich überzeugt. Ich sehe auch immer klarer.
Lebt wohl, besonders nach Euerem gestrigen Verhalten gehört Euch meine Verehrung bedingungslos, behaltet mich nicht in schlechtem Angedenken.
In Dankbarkeit
Franz K.« [480]  
    Kafka verschließt den Umschlag. Es ist das zweite Mal, dass er aus diesem Hotel nach einem Fahrradkurier rufen muss. Das zweite und sicherlich letzte Mal. Er bezahlt den Boten. Dann packt er ein Täschchen und fährt zum Stralauer Ufer. Dort gibt es ein öffentliches Schwimmbad.

    Berlin im Hochsommer; Montag, der 13.Juli 1914. Auch heute wird es heiß werden in der Stadt. Ein wenig beschaulicher scheint alles, ein wenig verlangsamt das Menschengedränge. Wer nicht arbeiten muss, fährt zum Wannsee, wer es sich leisten kann, ans Meer. Felice Bauer kann es sich nicht leisten, denn schon am folgenden Tag wird sie eine Dienstreise antreten, die noch vorzubereiten ist. Sie hat Kafka davon verständigt, ein Telegramm erwartet ihn im Hotel. Doch Kafka antwortet nicht mehr. Am Abend, beim Kofferpacken, erträgt sie die Vorwürfe der Eltern. Die Auslagen, die teuren Einkäufe – alles umsonst. Sie ist froh wegzukommen, und ihr graut vor der Rückkehr.
    Aus den Zeitungen erfahren die Berliner, dass auch die Obrigkeit jetzt Ferien macht. Das beruhigt. Es ist wohl doch nicht so dramatisch, die Sache mit den Österreichern und dem Mord an ihrem Franz Ferdinand. Die werden schon allein fertig werden mit den Serben. Auch Kaiser Wilhelm ist jetzt lieber an der frischen Luft, und trotz einiger Bedenken, ob er nicht Wesentliches verpassen könnte, ist er, wie in jedem Sommer, auf der ›S. M. S. Hohenzollern‹ in See gestochen, um die Küsten Norwegens zu bereisen, begleitet von einer Schar gutgelaunter Herren. Dringend angeraten hat ihm dies Reichskanzler Bethmann Hollweg, der seinerseits, wie die Blätter melden, auf seinem Gut in der Mark Brandenburg Erholung sucht (dass er mehrmals heimlich nach Berlin fährt, um einen Weltkrieg vorzubereiten, melden sie nicht). Auch Vizekanzler Delbrück ist in Urlaub, ebenso Kriegsminister Falkenhayn, Generalstabschef Moltke und dessen Stellvertreter Waldersee. Ja, sogar Großadmiral Tirpitz, der prominenteste ›Falke‹, hat seine Weltkarten mit in die Ferien genommen. Sie sind ausgeflogen, die Zentrale steht leer. Doch sie werden alle rechtzeitig zurück sein.

{536} Selbst-Justiz:
DER PROCESS und IN DER STRAFKOLONIE
Selbst auf einer Anklagebank ist es immer interessant, von sich sprechen zu hören.
Albert Camus, DER FREMDE
    Am 29.Dezember 1899, an einem Freitagmittag, betrat ein arbeitsloser Tagelöhner die Büros der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, um finanzielle Unterstützung zu verlangen. Nach kurzer Prüfung seines Falles wurde er abgewiesen. Der Bittsteller begann, lauthals die Beamten zu beschimpfen, warf einige Stühle quer durch den Raum, und als aufgrund des ungewöhnlichen Lärms Bürodiener herbeieilten, zog er aus der Tasche ein Messer. Ein Polizist musste gerufen werden, erst dann gelang es mit vereinten Kräften, dem Tobenden die Waffe zu entreißen. Er wurde dem Sicherheitsdepartement der Polizeidirektion überstellt, wo man seine Personalien aufnahm. Der Mann hieß Joseph Kafka und stammte aus dem ostböhmischen Dorf Rotoř. Da ein Presserecht noch nicht existierte, gelangte die Geschichte unter voller Nennung des Namens in die Zeitungen. [513]   Heute hieße der Mann »Joseph K.«: ein Held aus der Abteilung Lokales.
    »Wie bescheiden diese Menschen sind«, sagte ungefähr zehn Jahre später der Versicherungsbeamte Franz Kafka zu seinem Freund Max Brod. »Sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten.« [514]   Sein Vorgesetzter,

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