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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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gesamten Briefwechsel mit Kafka zu übergeben. Fast den gesamten.
    Es ist ein Glücksfall – und eigentlich ein Wunder angesichts der Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Kafkas biographische Zeugnisse unter sich begrub –, dass seine Briefe an Grete Bloch nahezu vollzählig erhalten blieben und dass sie in genau der Form überdauerten, die das Debakel vom Sommer 1914 ihnen aufprägte. Denn es blieben zwei Konvolute auf zwei Kontinenten: zum einen die Briefe Kafkas, die Grete Bloch an ihre Freundin Felice weitergab, die in deren Besitz verblieben und später nach Amerika gerettet wurden; zum anderen diejenigen Briefe, die Grete Bloch nicht weiterreichte, die sie aber Jahrzehnte später im italienischen Exil einem Freund anvertraute, noch eben rechtzeitig. Diese Aufspaltung der Korrespondenz wurde nach mehr als achtzig Jahren mit den sterilen Instrumenten der Editionsphilologie rückgängig gemacht, gleichzeitig aber auch fixiert : Denn seit Kafkas Briefe kritisch ediert und die Schriftträger genauestens vermessen sind, steht es jedem frei, den Finger {502} entlangzuführen an jener Grenzlinie zwischen Eigeninteresse und Indiskretion, die beide Frauen einst für geboten hielten.
    Der Zustand der rekonstruierten Briefe lässt klar erkennen, dass Grete Bloch die gesammelten Beweisstücke nur unter Vorbehalt übergab: Äußerungen Kafkas, die ausschließlich ihr Privatleben betrafen, sollten nicht vor Felices Augen gelangen. Derartige Briefe behielt sie zurück, oder sie schnitt die einschlägigen Passagen kurzerhand heraus. Felice scheint dieses bizarre Verfahren, mit der Schere in der Hand die Intimsphäre eines Menschen zu schützen und gleichzeitig die eines anderen bloßzustellen, notgedrungen akzeptiert zu haben – sicherlich im vollen Bewusstsein, dass sie damit Grete Bloch freie Hand gab, die eigene Rolle zu überschminken.
    Und so geschah es. Sämtliche Briefe oder Briefpassagen, aus denen man hätte schließen können, dass Kafka in irgendeiner Weise ermutigt oder verlockt worden war, wurden zensiert: Äußerungen über ihr Kleid, das er »mit den zärtlichsten Augen« zu betrachten verspricht (wozu auch schreibt sie ihm von Kleidern?), über ihre Fotos, die er lange und genau betrachtet (aha, sie hat ihm Fotos geschickt), und über Grete als »das liebste und bravste Geschöpf« (Komplimente hatte sie sich gern gefallen lassen). Dass er ihr »näher zu kommen versuchte«, durfte sie ebenfalls nicht zeigen, denn diesen Satz hatte sie verdächtigerweise schon selbst unterstrichen. Ebenso wenig alles, was die eigenen Schwächen offen legte: Depressionen, Konflikte mit den Eltern, Desinteresse an der Arbeit und vor allem natürlich den »Mann in München«.
    Hingegen erfuhr nun Felice aus erster Hand, dass ihr Bräutigam die Familie Bauer »am liebsten vergessen würde«, dass er ihre Liebe zum Bruder für ein »Unglück« hielt, dass Kafka mehrmals erfolglos versuchte, sich mit Grete Bloch zu verabreden, und dass er sich weigerte, ihre Briefe zurückzugeben. Felice Bauer musste lesen, dass nicht sie, sondern Ernst Weiß die Freiheit und Vitalität Berlins repräsentierte, die Kafka brauchte, ausgerechnet jener Mann also, der ihm die Heirat neuerdings auszureden suchte und der offenbar – die Briefe bewiesen es – viel gründlicher eingeweiht war, als sie geahnt hatte. Schließlich wurde ihr auch das Beweisstück Nummer eins nicht erspart, ein fatales Geständnis Kafkas, nur fünf Tage nach der großen Verlobungsfeier: »Manchmal – Sie sind die einzige, die es vorläufig erfährt – weiss ich wirklich nicht, wie ich es verantworten kann, so wie ich bin, zu {503} heiraten. Eine auf die Festigkeit der Frau begründete Ehe? Das wird ein schiefes Gebäude, nicht?« [479]   Nun, das genügte.
    Am 12.Juli, sechs Wochen nach der Verlobung, ließ sich Kafka endlich wieder in Berlin blicken. Es war die Zeit der Sommerferien, und da er so kurz vor der Heirat kein Geld für ein Sanatorium hatte, wollte er diesmal eine billige Pension in Reichweite der Ostsee, aber doch fernab des Strandrummels beziehen, in Gleschendorf, unweit von Lübeck. So konnte er zweimal bei den Bauers Station machen, um die letzten Einzelheiten zu Felices Übersiedelung zu besprechen. Er hatte jetzt häufiger mit ihr telefoniert, und darum ahnte er wohl, dass auch weniger Angenehmes bevorstand: bohrende Fragen, Vorwürfe, eine Aussprache. Doch als die verabredete Stunde da war, fand er sich vor den Schranken eines

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