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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Kafkas derart frech {544} auftrat, dass es selbst Franz zuviel wurde. Die Produktion stockte, die Umsätze gingen zurück, die alten Vorwürfe kehrten wieder. »Du hast mich hineingetanzt«, rief Hermann Kafka und funkelte seinen Sohn an, wohl wissend, dass der nichts im Sinn hatte als seine vollgeschriebenen Hefte, die drüben in der schwesterlichen Wohnung auf ihn warteten. Zwei Jahre war es her, da Kafka aus dem Fenster springen wollte angesichts dieser ständigen Vorhaltungen. Diesmal begnügte er sich damit, dem nächsten Abendessen fernzubleiben. [522]  
    Auch im Büro war jetzt die Routine, an die Kafka in Krisenzeiten sich noch stets hatte halten können, durchbrochen. Der Krieg hatte wirtschaftliche Folgen, auf die niemand vorbereitet war und auf die sich der träge Beamtenapparat erst mühsam einstellen musste. Nicht nur Arbeiter, auch Kleinunternehmer wurden eingezogen und blieben ihre Beiträge zur Unfallversicherung natürlich schuldig. ›Kriegswichtige‹ Betriebe wurden unter militärische Aufsicht gestellt. Fabriken, deren Waren für den Export bestimmt waren, mussten schließen, und in ganz Böhmen ging die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden drastisch zurück. Der technische Stand der Unfallverhütung, Kafkas Spezialgebiet, interessierte niemanden mehr, seit man aus den täglichen Meldungen Unfälle ganz anderer Dimension erraten konnte. Anfragen gingen ein, Probleme wurden aufgeworfen, an die niemand je gedacht hatte. Wie war mit Firmen zu verfahren, die von juristisch ahnungslosen Stellvertretern geleitet wurden? Durfte man Unfallrenten ausbezahlen, wenn der Geschädigte eingezogen war und man gar nicht wusste, ob er noch lebte? War ein Kriegsversehrter an seinem Arbeitsplatz voll versichert, wenn seine Behinderung die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls eindeutig erhöhte? Schließlich zeichnete sich ab, dass der Staat das berufliche Schicksal der ›Kriegskrüppel‹ in toto an die Arbeiter-Unfallversicherungen würde delegieren müssen – schließlich waren das ja alles Opfer der Technik, und eine Alternative war nicht in Sicht. Im Februar 1915 traf ein entsprechender Erlass des Innenministeriums ein, dem zufolge die »Fürsorge für die heimkehrenden Krieger« Sache der Anstalt und damit auch eine Aufgabe Kafkas wurde.
    Wofür es noch keine Formulare gab, war mündlich zu klären, und entsprechend nahm jetzt der ›Parteienverkehr‹ und die Unruhe auf den Korridoren der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt stetig zu. Auch die Korrespondenzen konnten nicht mehr ganz so mechanisch {545} abgewickelt werden, wie die Juristen dies gewohnt waren; die Ausnahme wurde zur Regel, und die zahlreichen Präzedenzfälle erforderten häufige Besprechungen und rasche Entscheidungen. Hinter den wachsenden Aktenbergen sich zu verschanzen war unmöglich: Kafkas Dienst bestand ja nicht nur darin, die laufenden Fälle zu bearbeiten; er war auch zuständig für den jährlichen Rechenschaftsbericht, dessen Formulierungen angesichts des Kriegselends diesmal besonders diplomatisch zu sein hatten, und er war gewiss auch beteiligt an den Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum der Anstalt, das ausgerechnet in die chaotischste Zeit der Kriegswirtschaft fiel. Infolgedessen musste er genau verfolgen, was vor sich ging, und erwartet wurden von ihm nicht nur Erledigungen, sondern auch kompetente Vorschläge und präzise Entwürfe. Gleichzeitig aber ging die Zahl seiner Kollegen ständig zurück: Auch die Beamten zogen in den Krieg. Bereits nach wenigen Monaten war in der siebzigköpfigen Abteilung, deren stellvertretender Leiter Dr.Kafka war, jeder zweite Platz leer.
    Immerhin gelang es ihm, sich im Oktober noch einmal zwei Wochen Urlaub zu verschaffen, die er in Ellis Wohnung in der Nerudagasse verbrachte, zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Es war, wie Kafka sicherlich ahnte, für lange Zeit die letzte Chance, den Kopf frei zu bekommen, der letzte ›Arbeitsurlaub‹, den er im Amt nicht mit Notlügen zu begründen brauchte und dessen Nächte er diszipliniert ausnutzte, ohne sich Erholung zu gönnen – bis fünf Uhr früh mindestens und einmal gar bis halb acht. Er arbeitete am PROCESS, schrieb das märchenhafte ›Naturtheater‹-Kapitel im VERSCHOLLENEN und konstruierte die mechanische Hölle der STRAFKOLONIE. Er war auf dem Gipfelpunkt seiner Konzentrationsfähigkeit, wo das gesamte psychische Spektrum sich gleichzeitig aufspannte, wo er an eine ungewisse künftige, noch zu ›erschreibende‹ Freiheit

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