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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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und starre nicht so in vollständige Leere. Nur auf diesem Wege gibt es für mich eine Besserung.« [519]  
    Kafka steht am Beginn der produktivsten schöpferischen Phase seines Lebens. Woher die plötzliche Zufuhr von Brennstoff rührt, dürfen wir vermuten: Es ist ebenjenes Energiequantum, das der psychische Kampf um die Ehe monate- und jahrelang verzehrt hatte. Es ist, als öffnete sich ein Vorhang. Die innere Bühne, lange in Zwielicht getaucht, erglänzt wie im Licht elektrischer Lampen. Figuren treten hervor, Szenen, Landschaften, real und körperlich wie im Fiebertraum. Zuerst überschwemmt es ihn, er schreibt Sätze nieder, kleine Szenen, die aufblitzen und verdämmern; doch bald schwingt Kafka sich auf zum Regisseur jener Träume, er reißt die Zügel an sich, ballt förmlich die Fäuste, versucht, sich immer wieder neu zu ›motivieren‹, als sei er der Impresario seiner selbst: »ich weiss dass ich nicht nachgeben darf, wenn ich über die untersten Leiden des schon durch meine übrige Lebensweise niedergehaltenen Schreibens in die grössere auf mich vielleicht wartende Freiheit kommen will.« [520]  
    Kafka will jetzt nachholen, was er versäumte, und er erntet mehr, als er fassen kann. Schon nach kurzer Frist genügt ihm die simultane Arbeit in den Heften des PROCESSES nicht mehr, er zieht das Manuskript des VERSCHOLLENEN hervor, jenes längst aufgegebenen und in der Schublade halb vergessenen Romans, er liest, denkt nach, beginnt, eine neue Szene auszuarbeiten. Weitere, unerhörte Bilder drängen hervor, die den Erfahrungsraum der städtischen Gassen und Büros endgültig sprengen: so eines Abends die Szenerie einer weiten, flachen, eintönigen Landschaft, die von einem Eisenbahngleis durchschnitten wird, von nirgendwo nach nirgendwo. Ein Punkt in dieser Landschaft, eine schmutzige Hütte, die als Stationsgebäude dient, darin ein Fremder, der einen ebenso einsamen wie sinnlosen Dienst versieht. ERINNERUNGEN AN DIE KALDABAHN nennt Kafka diese sibirische Vision, die von der Welt des PROCESSES denkbar weit entfernt ist und an {543} der er dennoch gleichzeitig malt – die Tagebuchnotate belegen es. Auch die alten Strafphantasien drängen wiederum hervor, Bilder einer mechanischen, leidenschaftslosen Gewalt. Die Hinrichtungsszene im PROCESS, in der zwei höfliche Henker dem Angeklagten ein Messer ins Herz stoßen, nimmt Kafka derart mit, dass er, Sekunden vor dem Tod seines Helden, die Distanz des Erzählers verliert und unvermittelt in den Roman hineinstürzt: »Ich hob die Hände«, heißt es im Manuskript, »und spreizte alle Finger.« Ich .

    Kafkas Arbeitspensum in den letzten Monaten des Jahres 1914 war ungeheuerlich, und um es recht zu ermessen, hat man sich vor allem das verwandelte äußere Szenario vor Augen zu halten, das noch wenige Wochen zuvor niemand in seiner Umgebung sich hätte vorstellen können. »Unannehmlichkeiten stärken mich merkwürdiger Weise«, hatte er Grete Bloch versichert, als das Debakel in Berlin sich längst abzeichnete. [521]   Das war selbstbewusst, aber keinesfalls übertrieben. Jene traumatische Szene im Askanischen Hof – dort hätten auch standfestere Charaktere um ihr Gleichgewicht gekämpft. Kafka aber hatte mit einem außergewöhnlichen Kraftakt geantwortet: mit dem Entschluss, sich von Prag, von den Eltern, von der Beamtenlaufbahn zu verabschieden.
    Was er dann allerdings nach Beginn des Krieges erfuhr, waren keine Unannehmlichkeiten mehr, es waren die Sieben Plagen. Sein Leben verwandelte sich in ein schwankendes Provisorium, und seine Fähigkeit, der Welt den Rücken zu kehren, sich förmlich hinter der eigenen Stirn zu verschanzen, wurde auf die härtesten Proben gestellt. Hinausgeworfen hatte man ihn aus seinem schönen, großen Zimmer am Altstädter Ring, und kaum hatte er sich in der Bilekgasse ein wenig eingerichtet, musste er schon im September erneut umziehen, in die Wohnung Ellis. Beim gemeinsamen abendlichen Essen, wo Kafka sich dennoch pünktlich einfand, sah er die Tränen der Schwestern, die angstvollen Augen dreier Kinder, er hörte das Seufzen und Klagen der Eltern und die quälenden, fortwährend wechselnden Gerüchte von der Front. Auch die elende Asbestfabrik, mit deren Sorgen man ihn eine Zeit lang verschont hatte, geriet jetzt wiederum auf die Tagesordnung. Seit Ellis Ehemann im Krieg war, leitete dessen Bruder Paul die Geschäfte, ein Tunichtgut, dem man auf die Finger sehen musste, wenn er in die Kasse griff, und der gegenüber den

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