Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
der Zuschauer unwillkürlich sein eigenes Bild, die Verkörperung seiner Angst. Nichts anderes geschieht im PROCESS. Kafka zeigt und deutet. Folgen wir aber seinem Finger mit unserem Blick, senkt sich sofort ein Schleier herab. Immerhin hat sein Gericht eine sichtbare Oberfläche. Aber alles, was davon auszumachen ist, verweist immer nur auf etwas anderes, Wesentlicheres, Unvorstellbares: ›die höchsten Richter‹, ›das Gesetz‹. Je weniger man weiß, desto mehr wird spekuliert. Alle reden davon, jeder hat etwas beizutragen, aber keiner kann sich auf eigene Erfahrungen beziehen, sondern immer nur auf das, was andere angeblich hörten oder erlebten. Das Gericht besetzt Denken und Sprache und wird dadurch allgegenwärtig. Es ist keinesfalls nur Schuldbewusstsein, wenn der Angeklagte sich zum Gericht drängt, um seinen anonymen Richtern endlich Auge in Auge gegenüberzustehen: Kein sichtbarer Gegner ist so furchtbar wie der imaginierte, kein offenes Duell so angsterregend wie ein Leben im Sichtfeld von Heckenschützen.
Ist das Gericht aber allgegenwärtig, dann ist es, genaugenommen, hier, in den physischen Niederungen des Lebens. Josef K. wird im Bett verhaftet, die Wächter essen sein Frühstück, verhandeln über sein Nachthemd. Nachbarn gaffen zum Fenster herein. Die Kollegen in der Bank wissen auch schon Bescheid, und selbst als Liebhaber ist K. jetzt den Augen und Ohren ungreifbarer Zeugen ausgesetzt. Der Beginn des Verfahrens bedeutet das Ende jeglicher Intimität. Diese vollständige Entblößung des Opfers hat man vielfach als Prophezeiung gelesen, und tatsächlich ist es verblüffend, wie nahe Kafkas Schilderungen {550} vor allem atmosphärisch der inneren Verfassung totalitär beherrschter Gesellschaften sind. Wie konnte Kafka das wissen, zwei Jahrzehnte bevor Gestapo und stalinistische ›Säuberungen‹ Zigmillionen von Menschen in einem Zustand permanenter Angst gefrieren ließen? Man denke an die vergleichsweise gemütlichen Überwachungspraktiken, denen sich Jaroslav Hašeks ›Schwejk‹ mit einfältigen Tricks zu entziehen versteht. Diese so realistisch geschilderte k. u. k. Schlamperei scheint uns heute historisch weit entfernt, geradezu märchenhaft, während der Albtraum des PROCESSES eine grundlegende Befindlichkeit des 20. Jahrhunderts in Bilder fasst.
Gewusst hat Kafka dies alles nicht. Aber sein soziales Radar reichte weit, und es bedurfte keines Weltkriegs, um ihm die Erfahrung einer kollektiven, wie Treibsand überall eindringenden, gleichsam gesichtslosen Gewalt zu vermitteln. Dass es so etwas gibt, hatte er als Jude früh genug erfahren, und dass das Entsetzliche der Macht gerade in ihrer Eigengesetzlichkeit und scheinbar ziellosen, undurchdringlichen Willkür liegt, erkannte er am Beispiel des eigenen Vaters. Das rohe, blutige Fleisch, das der Krieg freilegte, war nur eine Zugabe, ebenso wie das Phantasma eines von Maschinen aufgespießten Körpers, das Kafka aus den eigenen dienstlichen Korrespondenzen vertraut war, lange ehe er es in der STRAFKOLONIE literarisch zu bewältigen vermochte.
Doch nicht Zeitdiagnosen waren es, und schon gar nicht verschlüsselte Botschaften an den Leser, die den Bauplan des PROCESSES diktierten. Seit Kafkas Tagebücher offen liegen, wissen wir, dass es der »Gerichtshof« im Hotel Askanischer Hof war, wo die entscheidenden Bilder und Szenen gezeugt wurden, und dass Kafka nicht nur die gesammelten Demütigungen eines ganzen Jahres, sondern darüber hinaus zahllose Erlebnispartikel im Maßstab eins zu eins in den Roman übernommen hat. Aufgespürt wurden Hunderte von biographischen Entsprechungen und Anspielungen, und vermutlich gibt es noch weitere Hunderte, die uns für immer entgehen werden. Dabei muss Kafka klar gewesen sein, dass er ganz für sich allein spielte: Schon seine ersten Leser – Brod, Baum, Weltsch und selbst Ottla – konnten den Zusammenhang zwischen Fräulein Bürstner und Felice Bauer wohl vermuten, aber nicht verifizieren. Sie wussten nicht, dass er für beide Personen das Kürzel ›F. B.‹ verwandte, und sie wussten ebenso wenig, dass die mehrfach erwähnte Bluse im Zimmer des Fräulein Bürstner {551} natürlich die Bluse der Verlobten ist. Grete Bloch, die an einem Montag geboren wurde, tritt als ›Fräulein Montag‹ auf, ein Direktor, den Kafka verabscheute, als auftrumpfender ›Direktor-Stellvertreter‹. Der Tod im Steinbruch und dessen Verhütung: dies war ein Thema, das dem Unfallexperten Kafka seit Jahren
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