Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
dachte und dennoch den Gedanken an einen erlösenden Tod durch eigene Hand nicht zu verdrängen brauchte, wo er sadistische Phantasien in die Sprache der Klassik goss und dabei sich selbst »gute Arbeit« und »vollständiges Begreifen« seiner Situation attestierte. [523]
Dennoch war es keine mechanische Klage, sondern Kafkas ehrlichste Überzeugung, dass er jene ersten Kriegsmonate noch weitaus besser hätte nutzen können. Als schließlich der äußere Druck überhand nahm und seine Produktivität erlahmte – spätestens Mitte Januar {546} konnte er sich darüber keine Illusionen mehr machen –, suchte er die Schuld in gewohnter Manier bei sich selbst. Er hätte am Nachmittag nicht so lange schlafen sollen. Er hätte früher in die Asbestfabrik gehen sollen. Er hätte sich am Abend nicht erst um 23 Uhr, sondern schon zwei, drei Stunden früher vor die Manuskripthefte setzen müssen. Dann hätte er dort die doppelte Zeit verbracht und dennoch genug Schlaf bekommen, um im Büro zu bestehen. Mit anderen Worten: Er hatte es in der Hand gehabt, er allein. Es war eine Frage der Organisation. Und ebendieses Fazit war es, das Kafka sich hin und wieder bestätigen und notfalls auch einreden musste: die Freiheit des Entschlusses, die Freiheit ungeteilter Verantwortung für sich selbst. » … es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung«, hatte er konstatiert, wenige Stunden vor Beginn des Weltkriegs. Und hätte er sich diese Wahrheit selbst ins Ohr schreien können, er hätte es getan. [524]
»Wir Alle, die wir ein Buch zu lesen beginnen, wissen doch nach zwanzig oder dreißig Seiten, wohin wir den Dichter zu tun haben; was das ist; wie es läuft; obs ernst gemeint ist oder nicht; wohin man im Groben so ein Buch zu rangieren hat. Hier weißt du gar nichts: Du tappst im Dunkel. Was ist das? Wer spricht?«
So lässig dürfen wir heute über Kafkas PROCESS nicht mehr schreiben. Es war die Zeit der Unschuld, des ersten Staunens. Kurt Tucholsky war es, der sich nicht zu fassen wusste vor einem ästhetischen Kosmos, der ihm weder Traum noch Wirklichkeit schien, weder Allegorie noch Symbol. Eine Welt, die gerade darum nach Sinn und Verstehen verlangte, so dringlich, dass er sich an Brod wandte mit der Bitte um ein erlösendes Wort der Erklärung. [525]
Heutige Literaturkritiker werden darüber lächeln: So hemdsärmelig ist den ästhetischen Finessen des PROCESSES gewiss nicht beizukommen; da sind wir ein beträchtliches Stück weiter. Und doch: Ist nicht Tucholskys Verwunderung vor dem unauslotbaren Rätsel dieses Textes, seine Bereitschaft, sich erfassen und überwältigen zu lassen, die Voraussetzung für eine Lektüre, die einzig diesem Rätsel angemessen ist? Hier weißt du gar nichts. Das ist die Erfahrung, die kein Leser sich ersparen kann.
Es ist allerdings schwer geworden, den PROCESS mit so unschuldigen Augen zu lesen. Kafkas Werk teilt das Schicksal von Naturwundern, die so oft schon aus den immer gleichen Perspektiven gezeigt {547} wurden, dass es des wirklichen Erlebens gar nicht mehr bedarf, weil längst ein inneres Bild an die Stelle der Wirklichkeit getreten ist. Selbst intensivstes Lesen, das vollkommene Eintauchen in Kafkas Sprache macht keineswegs immun gegen die sekundären Bilder, die Orson Welles’ PROCESS-Verfilmung ins Bewusstsein brennt; ja, denkbar sind Kinogänger, die von der nachträglichen Lektüre des Romans enttäuscht sind: Der Held ist weniger sympathisch, er redet zuviel, und überhaupt wird hier um Worte und sprachliche Nuancen gefeilscht, als wolle der Autor nicht etwas erzählen, sondern beweisen .
Mit durchaus verwandten Schwierigkeiten kämpfen diejenigen, deren Beruf das Lesen ist, die Kritiker, die Germanisten. Ihnen machen weniger die auf Zelluloid fixierten Abbilder zu schaffen, als vielmehr die diskursiven ›Übersetzungen‹, welche sich die Geisteswissenschaften vom PROCESS – wie von allen exzeptionellen literarischen Leistungen – längst zurechtgelegt haben. Schon in den dreißiger und vierziger Jahren wurde Kafkas Werk zum Testfall immer neuer rigider Deutungsverfahren: psychoanalytische, religiöse, soziologische, werkimmanente … Und jeder dieser Versuche hinterließ seine Spuren im Assoziationsfeld des Weltnamens Kafka . Die verbissenen Kämpfe um den richtigen ›Schlüssel‹, die schiere Zahl der einander auf die Füße tretenden Expeditionen auf dem Gipfel des ›Sinns‹ – all das mag heute komisch erscheinen; unsere Lektüre des Romans
Weitere Kostenlose Bücher