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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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chronologisch voranzutasten, wie Kafka dies mit dem VERSCHOLLENEN praktiziert hatte? Waren nicht auch andere Strategien denkbar? Gewiss, solange auf den Helden hinter jeder Ecke eine Überraschung wartet, bleibt dem Autor nichts übrig, als bei ihm zu bleiben und immerzu dort anzuknüpfen, wo die Arbeit liegen blieb. Dort oder nirgendwo. Denn er muss Weichen stellen, von deren Existenz er erst jetzt erfährt, im Augenblick, da sie im Lichtkegel seiner szenischen Imagination auftauchen. Dieser Gesichtskreis aber ist eng, und darum bleibt seine Aufgabe die ewig gleiche: der Übergang vom letzten Satz der letzten Nacht zum ersten Satz des neuen Tages.
    DER PROCESS aber war anders, er war ein Uhrwerk, dessen Mechanismus im vollen Licht des Bewusstseins lag. Er hatte einen Anfang, an dem in irgendeiner Form der Blitz der Anklage einschlagen musste, und er hatte ein Ende, das nur in der Vollstreckung des Urteils bestehen konnte. Damit war ein Rahmen gegeben und eine Folge lose miteinander verbundener Szenen, die sich aus der Idee des Ganzen zwangsläufig ergaben. Der naheliegende Trick, auf den Kafka verfiel, bestand nun darin, immer nur an derjenigen Szene zu arbeiten, die ihm am intensivsten vor Augen stand. Mal in diesem Heft, mal in jenem. War für weitere Anläufe kein leeres Heft zur Hand, so drehte er ein schon benutztes um und beschrieb es von hinten. Und da Anfang {541} und Ende des Romans die scharf konturierten Pfeiler waren, auf denen das ganze Gebilde ruhen sollte, schrieb er diese Kapitel zuerst und möglicherweise sogar gleichzeitig .
    Damit hatte Kafka sichergestellt, dass es voranging auf begrenztem Operationsfeld, und seine Entschlossenheit, sich nun endlich auch einmal mit den technischen Schwierigkeiten des Schreibens zu beschäftigen, anstatt von idealen Bedingungen nur zu träumen, wurde von den Freunden gewiss beifällig unterstützt. Sie ahnten wohl kaum, dass Kafka, der seit Monaten nervös, überarbeitet und in allen praktischen Belangen überfordert wirkte, gerade jetzt die Früchte, nach denen ihn verlangte, dicht vor Augen hatte. Die Konzentration, die Intensität, auf die er seit mehr als einem Jahr vergeblich wartete, war unvermittelt da. Jetzt galt es zuzugreifen, zu ernten, rasch und mit beiden Händen.
»Von der Litteratur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufrieden stellen. Nun ist aber meine Kraft für jene Darstellung ganz unberechenbar, vielleicht ist sie schon für immer verschwunden, vielleicht kommt sie doch noch einmal über mich, meine Lebensumstände sind ihr allerdings nicht günstig. So schwanke ich also, fliege unaufhörlich zur Spitze des Berges, kann mich aber kaum einen Augenblick oben erhalten. Andere schwanken auch, aber in untern Gegenden, mit stärkeren Kräften; drohen sie zu fallen, so fängt sie der Verwandte auf, der zu diesem Zweck neben ihnen geht. Ich aber schwanke dort oben, es ist leider kein Tod, aber die ewigen Qualen des Sterbens.« [518]  
    Eine der bekanntesten, meistzitierten Passagen aus Kafkas Tagebuch. Man hat sie als Zeugnis quälender Selbstzweifel angeführt, als Abschied vom Leben gar, das nun, nach der Trennung von Felice, ganz »ins Nebensächliche gerückt« ist. Tatsächlich handelt es sich um eine der energischsten Stilisierungen der eigenen Existenz, die wir von Kafka kennen, in ihrem Pathos nur vergleichbar mit jenen Beschwörungen einer unbegrenzten inneren Welt in den Briefen an Felice, Beschwörungen, die freilich immer dann laut wurden, wenn die Ehe näher rückte. Hier aber spricht Kafka zu sich selbst: Er spricht vom Gipfel, auf den er sich schwingt, und von der Todeszone, in der er ganz allein sich erhält. Und er spräche davon nicht, sähe er den Gipfel {542} nicht vor sich . Er wird sich dort erhalten, schon wenige Tage später, und kaum hat er die ersten Schritte getan in den unwirtlichen Regionen der PROCESS-Welt, hat auch er keinen Zweifel mehr daran.
»Ich schreibe seit paar Tagen, möchte es sich halten. So ganz geschützt und in die Arbeit eingekrochen, wie ich es vor 2 Jahren war, bin ich heute nicht, immerhin habe ich doch einen Sinn bekommen, mein regelmässiges, leeres, irrsinniges junggesellenmässiges Leben hat eine Rechtfertigung. Ich kann wieder ein Zwiegespräch mit mir führen

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