Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
überschattet es dennoch. Denn jede geistige Anstrengung, und sei sie noch so verfehlt, affiziert ihren Gegenstand, sie wertet ihn auf und um. Wenn tausend Menschen den Generalschlüssel suchen, ihn aber nicht finden können, dann ist die Vermutung, er sei eben besonders raffiniert versteckt, kulturell weitaus attraktiver als das trockene Eingeständnis, es gebe einen solchen Schlüssel gar nicht.
Offenkundig freilich ist, dass Kafka selbst an diesem theoretischen Furor keineswegs unschuldig ist und dass der Verdacht, man müsse ihn tatsächlich erst übersetzen, um ihn zu verstehen, mit seiner eigentümlichen Scheu zusammenhängt, ›zur Sache‹ zu kommen. Alle seine großen Texte – DER VERSCHOLLENE, DER PROCESS, DAS SCHLOSS, aber auch DAS URTEIL und DIE VERWANDLUNG – handeln davon, dass Menschen vor einem ebenso undurchdringlichen wie aufreizenden Rätsel stehen. Josef K. und Gregor Samsa trifft dieses Rätsel wie ein Schlag vor den Kopf, im Augenblick des Erwachens. Es ist »die schlimme Pein, nicht zu verstehen« (Valéry), die sich unwiderstehlich {548} auf uns überträgt und die wir abzuschütteln suchen. Kafka hat diese Frustration noch bewusst dadurch vertieft, dass der Leser kaum jemals mehr erfährt als die Hauptfigur und dass er nur aus sparsam gesetzten Signalen (die er wiederum deuten muss) erkennen kann, ob das, was der Held zur Aufklärung des Rätsels unternimmt, überhaupt Aussicht auf Erfolg hat. Es ist, als ginge man hinter jemandem her, der durch ein Dunkel tappt. Man sieht ebenso wenig wie er, doch sobald man sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien sucht und zurückbleibt, hat man noch die allerletzte verbliebene Möglichkeit der Orientierung verloren.
Man kann sich den Ursprung dieser Finsternis verdeutlichen, indem man versucht, einen dieser Texte, zum Beispiel den PROCESS, einem Nichtleser zu erzählen . Einem Bankprokuristen wird eines Morgens mitgeteilt, er sei verhaftet. Er erfährt, dass ein Prozess gegen ihn im Gang ist, doch aufgrund welches Vergehens, kann niemand ihm sagen. Alle seine Versuche, durch Mittelspersonen zu einer auskunftsbereiten Instanz des Gerichts zu gelangen, scheitern. Auch sein Anwalt erzielt keinen erkennbaren Fortschritt. Begegnungen mit Frauen, von denen sich der Angeklagte Beistand erhofft, bleiben flüchtige Episoden. Am Ende wird er von zwei Henkern abgeholt, in einen Steinbruch geführt und hingerichtet.
Man erkennt sofort, warum eine solche Inhaltsangabe, die sich auf den plot des Romans beschränkt, dessen tatsächlichen Gehalt völlig verfehlt: Sie ist zu eindeutig . Wird Josef K. tatsächlich verhaftet? Der Erzähler behauptet es schon im ersten Satz. Doch die angebliche Verhaftung beschränkt sich auf deren Mitteilung, und danach kann der Verhaftete tun, was ihm beliebt. Er geht zur Arbeit wie an jedem anderen Tag. Das Gericht meldet sich bei ihm, aber es ist nicht zu erkennen, dass es auch tätig würde. Der erste Untersuchungstermin findet auf dem Dachboden eines gewöhnlichen Mietshauses statt und gelangt über die Feststellung der Personalien – die noch dazu falsch sind – nicht hinaus. Dies ist die Karikatur eines Gerichts und hat jedenfalls mit der Justiz, die der Leser bisher kannte, wenig zu tun.
›Verhaftung‹, ›Verhör‹, ›Anklage‹: Nichts ist im Wortsinn zu verstehen, alles ist ein wenig anders, wenngleich nicht völlig anders als erwartet. Zu Recht hat man von ›Traumlogik‹ gesprochen – Kafka selbst hatte ja mit der Beschwörung seines »traumhaften inneren Lebens« ein wichtiges Stichwort geliefert –, und tatsächlich finden sich viele {549} Gemeinsamkeiten zwischen der Realität des PROCESSES und den seltsamen Verfremdungseffekten, die intensive Träume auszeichnen. Dazu gehören die überscharf gesehenen Details, erschreckende Verschiebungen von Raum und Zeit, unerklärliche Widerstände, vor allem aber das Fehlen von Motiven, Erklärungen, Ursachen. Man erkennt vieles wieder, aber gebrochen, wie durch ein Prisma. Der Form nach ist Kafkas Gerichtswesen realistisch: Es gibt Angeklagte, Wächter, Anwälte, Richter, Amtsstuben, Hierarchien, Akten, Strafen. Unerklärlich jedoch, welchen Zweck dieser monströse Apparat verfolgt, der in sich selbst zu kreisen, sich selbst zu nähren scheint.
Ein Gegner, dessen Gesicht verborgen bleibt, erscheint uns besonders gefährlich – ein Atavismus, den das Kino mit Vorliebe nutzt, um Schrecken wachzurufen. Denn solange jenes ›Andere‹ nicht ans Licht kommt, macht sich
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