Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
dienstliches Kopfzerbrechen bereitete. Und der niederschmetternde Trost Frau Grubachs an ihren verhafteten Mieter, er solle es doch nicht so schwer nehmen , stammt – da dürfen wir wetten – von Kafkas Mutter.
Ein Baukasten privater Chiffren und Kürzel also, der selbst den nächsten Angehörigen verschlossen blieb. Und allein daraus vermochte Kafka eine so bezwingende und vor allem plausible fiktionale Welt zu errichten? Es wäre ein Wunder. Doch verwechseln wir nicht Genesis und Geltung: Die neugierige und durchaus legitime Frage ›Woher hat er das?‹ liefert im günstigsten Fall tomographische Aufnahmen aus dem Schädel des Autors, doch niemals Antworten über das Warum und Wozu. DER PROCESS ist ebenso wenig ein autobiographischer Roman wie DER VERSCHOLLENE, und man verharrt blind vor diesen Werken, solange man nicht Kafkas unerhörte Fähigkeit in Rechnung stellt, Fakten umzuschmelzen in Zeichen , die ihre stoffliche Herkunft abstreifen. Belege dafür finden sich auf jeder Seite, schon auf der allerersten.
»Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das ähnlich den Reiseanzügen mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. ›Wer sind Sie?‹ fragte K. ...«
Wo Kafka einen solchen Anzug je gesehen hat, wissen wir nicht; erfunden hat er ihn wohl kaum. Entscheidend aber ist, dass diese Kleidung hier als Zeichen erscheint, weil sie auf eine Funktion verweist: Es ist Berufskleidung. Was fehlt, ist der dazugehörige Beruf. Und je auffälliger das zeichenhafte Phänomen, desto schmerzlicher und bedrohlicher das dahinter spürbar werdende Dunkel. Jedes Detail sagt: Ich bin da, ich bedeute etwas, aber ich sage nicht, was. Und darum denken wir an Geheimdienstler, an uniformierte Schergen und SS-Leute, obwohl diese realiter keineswegs aussahen wie die harmlosen Wachleute des fiktiven Gerichts.
Kafkas Raffinesse besteht vor allem darin – und hier gelangte er einen bedeutenden Schritt über DIE VERWANDLUNG hinaus –, dass es scheinbar gar nicht der Erzähler ist, der immerzu ins Dunkle deutet, sondern die Figuren selbst sind es. Gewiss, Josef K. ist von Zeichen förmlich umstellt. Doch wir sehen sie ausschließlich mit seinen Augen, und dieser Blick ist höchst unstet. Eindrücke, die er für unwichtig hält, wirken dennoch lange in ihm nach, und was er für bedeutsam erklärt, erweist sich regelmäßig als nichtig. Dass die Mitteilung seiner Verhaftung ausgerechnet im Zimmer Fräulein Bürstners erfolgen muss, hält er für eine Rücksichtslosigkeit des Gerichts; wenige Stunden später quälen ihn Schuldgefühle, als hätte er selbst den Ort der Verhaftung gewählt.
Man stößt hier auf eine Tiefenschicht des Romans, die sich vor allem im ›traumhaft‹ unlogischen Verhalten des Angeklagten manifestiert. Er agiert wahrlich nicht besonders souverän, schwankt zwischen Gesten der Unterwürfigkeit und prahlerischen Attacken gegen das Gericht. Ohne dass ihn jemand dazu aufgefordert hätte, plant er eine große »Eingabe«, eine schriftliche Rechtfertigung seines Lebens; doch wenn es darauf ankommt, ist er nicht bei der Sache. Von seiner Vermieterin, einer unbedarften Frau, erhofft er die Bestätigung seiner Unschuld; ebenso von Fräulein Bürstner, einer Zimmernachbarin, die er bisher kaum beachtet hat und an die er sich nun geradezu klammert. Plötzlich fällt ihm ein, seine Mutter zu besuchen, die er jahrelang gemieden hat. Es ist unübersehbar: Die Verhaftung hat ihn im Innersten getroffen. Er fühlt sich schuldig, und obwohl an keiner Stelle gesagt wird, worin diese Schuld besteht, so hat sie doch zweifellos zu tun mit der Art und Weise, wie K., der bisher ein gleichförmiges, freudloses, kaltes Dasein führte, nun plötzlich alle Welt zu Helfern machen will.
Das wirft ein verändertes Licht auch auf das Gericht. Obwohl es, wie verlautbart, von K.s Schuld »angezogen« wird, ist es doch im Grunde machtlos. Mit feinstem Pinsel hat Kafka jede Spur einer unabhängigen Aktivität des Gerichts getilgt. Selbst den Termin der ersten Untersuchung bestimmt der Angeklagte selbst, und für die Missachtung weiterer Vorladungen ist keinerlei Strafe vorgesehen, wie ihm ausdrücklich bestätigt wird. Die Wächter sind es, die bestraft werden, und
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