Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Tochter unter vier Augen durchzusprechen. Hätte Elli auf eines der vorgelegten Fotos mit Abscheu reagiert, so hätte die Mutter wohl kaum gezögert, auch starke finanzielle Argumente hintanzustellen: Im Grunde war sie es, die hier entschied und die dafür zu sorgen hatte, dass der Ruf der Familie, die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und das erforderliche Minimum an Sympathie in vernünftigem Gleichgewicht blieben. Floss all dies ununterscheidbar ineinander, so war die Operation geglückt.
Doch Diplomatie war diesmal gar nicht vonnöten, denn Elli fand ihren künftigen Ehemann attraktiv, selbst die Mutter war beeindruckt von der flotten Erscheinung des Reserveleutnants, und der schwer zufrieden zu stellende Familienvorstand war angenehm überrascht von einem kaufmännischen Unternehmungsgeist, den er am eigenen Sohn von jeher vermisste. Freilich, eine ›Geldheirat‹ war dies nicht. Zwar besaß die Familie Hermann, die aus dem westböhmischen Dorf Zürau stammte, einigen Grundbesitz; doch Karl hatte sieben Geschwister, mit denen er teilen musste, und für die Gründung eines selbständigen Unternehmens war diese Basis zu schmal.
Indessen brachte der Schwiegersohn Geschäftsideen vor, die selbst dem misstrauischen alten Kafka imponierten. Karl Hermann wollte eine Produktionsstätte gründen, die in Prag konkurrenzlos war, und dabei verfiel er – wir wissen nicht, wie – auf den Werkstoff Asbest, der in der Industrie überall gebraucht wurde, wo es um Feuerschutz und um besonders sichere, hitzebeständige Dichtungen ging. Asbestprodukte also – ein zukunftssicheres Geschäft, solange es Industrie gab.
Natürlich setzte die Gründung eines solchen Unternehmens voraus, dass Ellis Mitgift reichlich bemessen wurde und dass der größere Teil dieses Betrags nicht in den Haushalt, sondern in die Fabrik floss. Den Kafkas leuchtete das ein, auch ihr eigenes Geschäft war ja dreißig Jahre zuvor auf dem Fundament von Julie Löwys Mitgift errichtet worden, und bei einer Bank sich zu verschulden statt bei der eigenen Familie – das war eine moderne Unsitte, über die man im jüdischen Clan nur lächeln konnte. Hier hatte man eigene und lange bewährte Methoden, sich die nötigen ›Sicherheiten‹ zu verschaffen.
Hermann Kafka schätzte, ja bewunderte seinen Schwiegersohn. Bewunderung freilich war nicht dasselbe wie Vertrauen. Schließlich ging es um eine fünfstellige Summe in Kronen, wahrscheinlich sogar um mehr als den Geschäftsgewinn eines ganzen Jahres [12] , und es war ganz undenkbar, einem Menschen, den man erst wenige Monate kannte, ein derartiges Vermögen zur freien Verfügung auszuhändigen. Die Kafkas mussten die Kontrolle behalten, ohne indessen die Initiative des Schwiegersohns zu ersticken. Das war ein Widerspruch, gewiss. Doch wozu hatte man Juristen in der Familie?
Tatsächlich zeigt die gewitzte Lösung, auf die man schließlich verfiel, die Handschrift des Advokaten: Ein Teil der Zahlung, zu der die Kafkas sich verpflichteten, ging nicht an Karl Hermann, sondern an {25} den eigenen Sohn Franz, und dieser wiederum brachte den Betrag als Teilhaber in das zu gründende Unternehmen ein. Damit war sichergestellt, dass ein Mitglied der Familie ständigen Einblick in die Bücher hatte, und gleichsam als Bonus eröffnete sich die Chance, dass Franz eines Tages doch noch aus der sozialen Einbahnstraße seiner Beamtenkarriere würde ausbrechen können. Denn im Fall des Erfolgs konnte niemand ihm verwehren, vom stillen zum aktiven Teilhaber aufzusteigen und im vollen Wortsinne das zu werden, was er jetzt nur nominell war: ein Fabrikant. Konnte ein am Geld so desinteressierter Sohn mehr verlangen, als dass die Eltern ihm das soziale Sprungbrett geradewegs vor die Füße stellten? Nein. Und darum wurde am 8.November 1911 im Büro des Rechtsanwalts Dr.Robert Kafka, Wenzelsplatz 35, der Gesellschaftervertrag verlesen, der die ›Prager Asbestwerke Hermann & Co.‹ begründete. [13] – »Und Co.«: das war Kafka .
Ein bescheidenes Hinterhof-Unternehmen war es, die erste Prager Asbestfabrik, nach heutigen Begriffen eher eine Werkstatt. Žižkov, Boriwogasse Nr. 27 lautete die Adresse: Das lag inmitten einer grauen, überwiegend von tschechischen Arbeiterfamilien bewohnten Vorstadt, wo Mieten und Arbeitskräfte billig waren. Da weder Kafka noch Karl Hermann etwas von Asbest verstanden, wurde ein Werkmeister aus Deutschland engagiert, der etwa zwanzig Arbeiterinnen kommandierte. Produziert wurden
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