Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Isoliermaterialien, vor allem ›Stopfbüchsenpackungen‹ [14] , das Ganze arbeitsteilig an vierzehn Maschinen, die von einem einzigen, 35 PS starken Dieselmotor angetrieben wurden. Ein Foto der Anlage hat sich leider nicht erhalten, wohl aber eine Schilderung aus der Feder des Unternehmers selbst:
»Gestern in der Fabrik. Die Mädchen in ihren an und für sich unerträglich schmutzigen und gelösten Kleidern, mit den wie beim Erwachen zerworfenen Frisuren, mit dem vom unaufhörlichen Lärm der Transmissionen und von der einzelnen zwar automatischen aber unberechenbar stockenden Maschine festgehaltenen Gesichtsausdruck sind nicht Menschen, man grüsst sie nicht, man entschuldigt sich nicht, wenn man sie stösst, ruft man sie zu einer kleinen Arbeit, so führen sie sie aus, kehren aber gleich zur Maschine zurück, mit einer Kopfbewegung zeigt man ihnen wo sie eingreifen sollen, sie stehn in Unterröcken da, der kleinsten Macht sind sie überliefert und haben nicht einmal genug ruhigen Verstand, um diese Macht mit Blicken und Verbeugungen anzuerkennen und sich geneigt zu machen. Ist es aber sechs Uhr und rufen sie das einander zu, binden sie die Tücher vom Hals und von den Haaren {26} los, stauben sie sich ab mit einer Bürste, die den Saal umwandert und von Ungeduldigen herangerufen wird, ziehn sie die Röcke über die Köpfe und bekommen sie die Hände rein so gut es geht, so sind sie schliesslich doch Frauen, können trotz Blässe und schlechten Zähnen lächeln, schütteln den erstarrten Körper, man kann sie nicht mehr stossen, anschauen oder übersehn, man drückt sich an die schmierigen Kisten um ihnen den Weg freizumachen, behält den Hut in der Hand, wenn sie guten Abend sagen und weiss nicht, wie man es hinnehmen soll, wenn eine unseren Winterrock bereithält, dass wir ihn anziehn.« [15]
Es ist nicht die lineare, diskrete Welt der Elektromotoren, es ist die schmutzige Mechanik des 19. Jahrhunderts, die Kafka hier vor Augen hat, eine ölige und lärmende, dabei ständig versagende Technik, die am ledernen Transmissionsriemen hängt. Er kannte solche Werkstätten, und nicht selten saß jemand, der dort sein Brot verdiente, mit entsetzlichen Wunden im Büro der Versicherung. Wenigstens der Unfallschutz – da dürfen wir sicher sein – war in den ›Prager Asbestwerken‹ vorbildlich.
Umso makabrer wirkt es aus der Distanz eines Jahrhunderts, dass ausgerechnet Kafka, der von Berufs wegen die Rechte von Proletariern verfocht, ›seine‹ Arbeiterinnen einem hochgradig karzinogenen Werkstoff aussetzte. Offenbar trugen die Frauen Kopf- und Halstücher, um die Asbestfasern von der Haut fernzuhalten; von Mundschutz ist nirgendwo die Rede, und dass am Feierabend eine einzige Kleiderbürste im Saal umhergereicht wird, als handele es sich um die Vervollkommnung der Abendtoilette, zeigt Arbeiterinnen, Werkmeister und Fabrikanten als eine Gemeinschaft von Ahnungslosen. Man muss sich Kafka bei dieser Szene wohl eingehüllt in eine Wolke aus Asbest vorstellen, und dass sowohl er als auch sein Schwager diese Fasern mit nach Hause trugen, war schwerlich zu vermeiden. Dort wurde dann allerdings streng auf frische Luft geachtet, und Kafka selbst war es, der zum Leidwesen seiner Familie unentwegt die Fenster aufriss, um die verbrauchte Luft hinaus- und den städtischen Braunkohlenruß hereinzulassen.
Seine Eltern bekamen die Notizen aus der Fabrik wohl kaum je zu Gesicht, und wie sie es aufgenommen hätten, ist unschwer zu erraten. Das war weder der Stil noch die Perspektive des angehenden Fabrikanten, es war die Stimme des verwöhnten Sohnes, der sich wieder einmal mit dem Dienstpersonal gemein machte. Physiognomie, Gestik, {27} sozialer Ausdruck waren es, die Kafka interessierten, das Exemplarische, das noch in der unbewusstesten Regung des Körpers aufzuleuchten vermag. Ein soziales Setting schildert er, in dem ein unmenschlicher Rhythmus jede Intimität, Höflichkeit, Erotik, ja überhaupt jegliche Verständigung zwischen Menschen überflüssig und zugleich unmöglich macht. Nicht anders als ein geschulter Ethnologe bemerkt Kafka zugleich, wie das, was er erfährt, zurückschlägt auf das eigene Verhalten, das sich den Verhältnissen nahtlos einpasst. Sein Blick reicht tief, nach außen wie nach innen. Doch er lässt nicht den Funken eines Eigeninteresses erkennen, das über die Lust an Beobachtung und Erkenntnis hinausreichte. Nichts, gar nichts deutet darauf hin, dass dies seine Fabrik ist.
Bereits nach
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